Ethik der Besteuerung

Home English Impressum

[Dies ist die Übersetzung eines auf Englisch verfassten Textes.]

 

Thema IV

Es ist ebenso unmoralisch, Geld von den Reichen zu nehmen und es den Armen zu geben, vorausgesetzt, die Reichen haben ihr Geld ehrlich verdient. Warum ist Stehlen moralisch? Und was ist der Unterschied zwischen Besteuerung und Diebstahl?

Milton Friedman (1976)

 

Ideen für eine Ethik der Besteuerung

Als Nietzsche seine Analyse der Sklavenmoral in seinem Meisterwerk Zur Genealogie der Moral schrieb, war er sich sicher, dass die Armen und Schwachen die wahrhaft Bösen sind, die ein moralisches System geschaffen haben, um die Reichen und Mächtigen zu schwächen. Während Potenz, Macht und Wohlstand in der guten alten Zeit des antiken Griechenlands bewundert wurden, war ihnen seitdem von Philosophen und Priestern ein schlechtes Gewissen angehängt worden; Keuschheit, Zurückhaltung in weltlichen Dingen und Bescheidenheit hatten die älteren Tugenden ersetzt. In der Einleitung zu seiner vorangegangenen, viel weniger bekannten Gedankensammlung über die Moral, der Morgenröthe, hatte Nietzsche eine besondere Verachtung für Jean-Jacques Rousseau geäußert, der nach Nietzsches Ansicht die Sklavenmoral besonders weit getrieben hatte. Es wird sehr deutlich, wie Nietzsche zu diesem Schluss kam, wenn wir einen Blick auf Rousseaus Werke Der Gesellschaftsvertrag und Versuch über die Ungleichheit unter den Menschen werfen. Rousseau behauptet, dass es in Wirklichkeit keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Menschen gebe, dass die Unterschiede in Bezug auf Eigentum und Fähigkeiten lediglich künstlich seien und dass daher die Herstellung der völligen Gleichheit und die Abschaffung des Privateigentums die Rückkehr zu einer natürlichen Ordnung der Dinge bedeute. Für Nietzsche war dies natürlich die extremste Version der Sklavenmoral, einer Moral, die darauf abzielte, die Außergewöhnlichen zu herabzuziehen und sie der Herde gleichzumachen.

Der Einfluss von Rousseau auf das europäische Denken kann kaum überschätzt werden. Zusammen mit anderen Philosophen legte er den Grundstein für den Sozialismus. Aber natürlich ist der moderne europäische Staat sowohl das Ergebnis des Sozialismus als auch des Liberalismus, einer politischen Ideologie, die die Freiheit des Individuums fördert, sich zu äußern und nach seinem eigenen Willen zu handeln. John Stuart Mill, den ich als klassischen Vertreter des Liberalismus anführe, schreibt in seiner Abhandlung On Liberty, dass die Gemeinschaft oder der Staat nur eingreifen darf, „um Schaden an anderen zu verhüten“, d.h. die eigene Freiheit endet dort, wo die eines anderen verletzt wird.

Milton Friedman, neben John Maynard Keynes der wohl einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, war ein Liberaler nicht nur in Bezug auf Bürgerrechte, sondern auch in Bezug auf Wirtschaft. In dem eingangs erwähnten Zitat bestreitet Friedman, dass es moralisch sei, den Reichen Geld wegzunehmen (wenn sie ihr Geld gerecht verdient haben), um es den Armen zu geben, und behauptet sogar, es gebe keinen moralischen Unterschied zwischen Besteuerung und Diebstahl. Dies erinnert ein wenig an Nietzsche, obwohl Nietzsche nicht dafür bekannt ist, moralische Argumente anzuführen.

Aus einer hobbesschen Perspektive, die keinen Unterschied zwischen Moral und Gesetzlichkeit macht, wäre Friedmans Frage leicht zu beantworten: Diebstahl ist eine ungesetzliche und daher unmoralische Wegnahme von Eigentum; die Besteuerung hingegen wird von der Regierung vorgenommen, und die Regierung allein entscheidet, wie Hobbes im Leviathan behauptet, was ungesetzlich und daher unmoralisch ist, sodass es für die Regierung unmöglich ist, etwas Ungesetzliches oder Unmoralisches zu tun. Doch diese Perspektive wurde vor dem Aufkommen sowohl des Liberalismus als auch des Sozialismus angeboten. Im modernen Staat sind der eingreifenden Macht der Regierung Grenzen gesetzt worden, und moderne Regierungen behaupten, nicht nur auf der Macht selbst, sondern auch auf vorangegangenen ethischen Prinzipien gebaut zu sein. Wir werden daher prüfen, ob es möglich ist, einige Grundgedanken für eine Ethik der Besteuerung zu finden, die sowohl den Liberalismus als auch den Sozialismus berücksichtigt; und wir werden fähig sein, Stellung dazu zu nehmen, ob Friedman in Bezug auf Besteuerung Recht hatte oder nicht.

Die Grundlage der Ethik muss das Individuum sein. Dieser Aufsatz ist nicht der Ort, um diese Prämisse vollständig zu entwickeln, aber es mag genügen zu sagen, dass jeder Mensch als Individuum geboren wird, als Individuum lebt und fühlt und als Individuum stirbt. Das bedeutet nur, dass die Ethik so gestaltet werden muss, dass sie den Menschen als Individuen dient; und erst dann, in einem zweiten Schritt, die Menschen, um der Ethik dienen. Es bedeutet auch, dass die Ethik für jedes Individuum plausibel sein muss. Wenn der Staat ethisch ist, muss er daher einige individuelle Freiheiten zulassen, wie sie im Grundgesetz oder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt sind. Dazu gehört auch das Recht auf Eigentum – das notwendig ist, um ein einigermaßen unabhängiges, individuelles Leben zu führen –; daher muss das Privateigentum vom Staat geschützt werden. So weit befinden wir uns in Übereinstimmung mit Friedman.

Bevor wir uns der Frage zuwenden, warum die Besteuerung dennoch gerechtfertigt sein kann, muss ich anmerken, dass die Frage, ob der Reichtum des Besteuerten in einem ethischen Sinne ehrlich verdient wurde oder nicht, für das ethische Problem der Besteuerung völlig irrelevant ist. Wenn mit Ehrlichkeit eine moralische Qualität gemeint ist, würde die Debatte über den ethischen Wert eines, sagen wir, Zuckerunternehmens niemals enden. Sie würde erfordern, dass man zum ethischen Wert eines jeden Unternehmens Stellung nimmt, und wäre, wenn dies vom Staat getan würde, totalitär. Wenn „ehrliches“ Verdienen bedeutet, dass es eine Entsprechung zwischen der Anstrengung des Verdieners und dem, was er verdient, gibt, ist es allgemein fraglich, ob dies in einer durch Kapitalakkumulation gekennzeichneten Wirtschaft überhaupt möglich ist. Klar ist auch, dass der Eigentümer von irgendetwas auch das Recht haben muss, über das Schicksal seines Eigentums zu entscheiden, womit das Recht zu vererben begründet ist. Daher gehe ich davon aus, dass Friedman mit „ehrlich“ nur gemeint hat, dass keine Gesetze auf dem Weg gebrochen worden sind. Das ist natürlich unnötig zu sagen; denn was auch immer illegal verdient wurde, ist aus gesetzlicher Sicht gar nicht verdient, sondern gestohlen worden.

Der Widerspruch, den ich zu Friedman habe, besteht darin, dass er die Freiheit auf den Bereich der Wirtschaft ausdehnt. Eine Ethik, die sich auf das Individuum stützt, führt zu dem von Mill formulierten Freiheitsgrundsatz, dass die Gemeinschaft oder die Regierung nur eingreifen darf, „um Schaden an anderen zu verhüten“. In der Ethik geht es also im Grunde darum, einen Kompromiss zwischen widerstreitenden individuellen Interessen zu finden. Nun ist es offensichtlich, dass der Reichtum der Reichen nicht nur ihre Sache ist. Tatsächlich wirkt man, sobald man mit einem Wirtschaftssystem interagiert, sich auf alle anderen Leben aus, die mit ihm verbunden sind, und kann daher anderen schaden. Um Schaden von anderen abzuwenden, ist die Regierung (oder ein Zusammenschluss von Regierungen, wie es zur globalisierten Wirtschaft passt) daher verpflichtet, Regeln für die Teilnehmer der Wirtschaft aufzustellen; und je mehr Schaden ein Teilnehmer verursachen kann, desto restriktiver können die ihm auferlegten Regeln sein. Dies ist für uns oft schwer nachvollziehbar, da die wechselseitigen Abhängigkeiten innerhalb unserer Wirtschaft so komplex und undurchschaubar sind. Schaden wird selten direkt verursacht, sondern entsteht durch das achtlose Handeln vieler Beteiligter. Das ist natürlich kein Grund, ihn nicht zu verhindern.

Das stärkste Instrument zur Regulierung des Marktes ist die Besteuerung. Es ist eine schwierige Frage, was genau besteuert werden sollte: Kapital, Einkommen oder Kapitaltransaktionen. Aber das beschäftigt uns in diesem Aufsatz nicht; wir werden nur die Besteuerung im Allgemeinen betrachten, deren ethischen Wert Friedman so vehement bestreitet. Das allgemeine Prinzip der Besteuerung lautet: Je mehr man hat, desto mehr muss man abgeben. Wir sprechen jetzt über den Teil „Geld von den Reichen nehmen“. Dieses Prinzip ist wichtig, um eine Wirtschaft auszugleichen, die durch die Akkumulation von Kapital gekennzeichnet ist. Dies ist natürlich eher eine keynesianische Sichtweise, die Friedman nicht unterstützt hätte, aber die Erfahrung spricht dafür. Ich werde erklären, was sie bedeutet. Es ist offensichtlich und allgemein bekannt, dass es viel einfacher ist, auf dem Markt zu expandieren, wenn man bereits eine Menge Geld, wertvolle Ressourcen oder andere Güter wie Fabriken besitzt. Daher ist es für Wohlhabende immer wahrscheinlicher, noch wohlhabender zu werden, wenn es keine Steuern gibt. Eine berühmte Fallstudie für diese Art der Kapitalakkumulation ist die Standard Oil Company von John D. Rockefeller, die zu einer Zeit gegründet wurde, als die Regierungen noch ein (noch) schlechteres Verständnis von Kapitalismus hatten. Rockefeller baute durch den Erwerb von immer mehr Fabriken und Ressourcen ein so unglaubliches Vermögen auf, dass er selbst, ein frommer Christ, es für ein Geschenk Gottes hielt, das für wohltätige Zwecke verwendet werden sollte. Das meiste Eigentum, wenn kein Staat in diesen Prozess der Akkumulation eingreift, gehört schließlich einigen wenigen, so dass der Rest der Bevölkerung nicht mehr so viel konsumieren und kaufen kann wie zuvor. Wie die Menschen weniger kaufen, geht auch die Produktion zurück. Dies führt zu einem allgemeinen Niedergang der Wirtschaft, wie wir in Russland, wo den Oligarchen fast alles gehört, und in vielen anderen korrupten Ländern beobachten können. Es ist daher notwendig, dass die Regierungen die Reichen besteuern, um eine Wirtschaftskrise zu verhindern.

Da wir festgestellt haben, dass es ethisch gerechtfertigt sein kann, im Einklang mit der individuellen Freiheit „Geld von den Reichen zu nehmen“, wenden wir uns nun dem Teil „es den Armen zu geben“ zu. Wir haben bereits gesehen, dass es wichtig ist, den Reichtum innerhalb eines kapitalistischen Systems umzuverteilen, damit das System nicht zusammenbricht. Auf die eine oder andere Weise muss sich die Mittelschicht mehr Güter leisten können. Aber was ist mit den armen Menschen? Auch hier können wir argumentieren, dass sie für alle Wirtschaftsteilnehmer von Nutzen sein können, wenn sie sich mehr Güter leisten können. Damit würde man zukünftigen Schaden an allen Teilnehmern verhüten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dies eine gute Investition ist; wir dürfen nicht vergessen, dass der Staat das seinen Bürgern entzogene Geld verwendet und dafür verantwortlich ist, es im ethischsten Sinne zu verwenden. Warum, könnte eine reicher Steuerzahlerin sagen, gebt ihr mein Geld den Armen? Warum wird es nicht für die Instandsetzung der Straßen oder den Bau eines neuen Theaters verwendet? Nun, könnten wir in einer Demokratie antworten, haben Sie nicht die Regierung gewählt, die über diese Dinge entscheidet? Aber die Steuerzahlerin hätte Recht, wenn sie darauf hinweisen würde, dass dies nur das Votum der Mehrheit gewesen sei und nicht ihr eigenes; und dass es eine „Tyrannei der Mehrheit“ (um Mills Ausdruck zu gebrauchen) sei, wenn ihr Geld von der Regierung ohne jeden ethischen Grund verwendet wird. Es scheint also, dass wir uns ein anderes, stärkeres ethisches Argument einfallen lassen müssen, um zu rechtfertigen, dass die Regierung den Armen Geld (oder andere Güter) gibt.

Dazu werde ich auf meine Prämisse zurückkommen, dass die Ethik auf dem Menschen als Individuum gegründet sein muss und dass ein gutes ethisches System für jedes Individuum plausibel sein muss. Das bedeutet, dass es für den Einzelnen sinnvoll ist, die Regeln der Ethik zu befolgen, und sie nicht zu viel verlangt. Ein ethischer Staat muss also so funktionieren, dass es für jeden sinnvoll ist, nach ihm zu leben; er muss so funktionieren, dass niemand rational motiviert sein kann, ihn abzuschaffen. Zwar wird es immer Menschen geben, die den Staat aus politischem Fanatismus oder religiösem Fundamentalismus stürzen wollen, aber niemand, der richtig informiert ist, sollte dazu gedrängt werden, gegen den Staat zu handeln, wenn dieser Staat ethisch ist. Dieser Grundsatz gilt auch in Fällen, in denen der Staat ganz sicher sein kann, dass er von niemandem tatsächlich bedroht wird, da ein ethischer Staat versucht, jeden starken oder gar gewaltsamen Interessenkonflikt zu vermeiden. Aus dieser Ethik folgt also, dass kein ethischer Staat irgendeine Art von extremer Armut zulassen kann; der ethische Staat muss auch ein Sozialstaat sein.

Wir haben nun die Grundlage für eine Ethik geschaffen, die den moralischen und nicht nur den rechtlichen Unterschied zwischen Diebstahl und Besteuerung erklären kann; und warum es moralisch ist, „Geld von den Reichen zu nehmen und es den Armen zu geben“ und nicht umgekehrt, und warum Steuerhinterziehung unmoralisch ist. Aber es ist offensichtlich, dass dies nicht nur eine Rechtfertigung der derzeitigen Steuersysteme ist, sondern auch die Grundlage für neue politische Veränderungen, um unsere Staaten ethischer zu machen.

Es bleibt, einige Unterschiede dieser Ethik zu Nietzsche und Rousseau, die zur Einführung in unser Thema herangezogen wurden, aufzuzeigen, damit ihr Charakter deutlicher wird. Aus einer Nietzscheanischen Perspektive der Moral kann man sich fragen, ob die hier vorgestellte Ethik eine Art Sklavenmoral ist. Sie ist es in dem Sinne, dass jedem eine gewisse Freiheit zugestanden wird und das ethische Ziel darin besteht, den Interessenkonflikt durch einen Kompromiss und nicht durch Kampf zu lösen. Aber das hat mit der wirtschaftlichen Situation unserer Zeit zu tun. Die Zeit, in der die Moral entstanden ist, war meist eine Zeit der Knappheit. Etwas wegzugeben bedeutete immer, nicht genug für sich selbst zu haben; und jede Form von fortgeschrittener Kultur erforderte Sklaverei. In unserer Zeit hat uns die industrielle Revolution einen Reichtum beschert, wie ihn sich frühere Zeiten nicht vorstellen konnten; und selbst die Armen in Deutschland wären heute unglücklich, mit einem Monarchen aus dem 18. Jahrhundert die Plätze zu tauschen. Jetzt ist die Zeit einer Ethik, die darauf abzielt, die Unterdrücker mit den Unterdrückten und die Reichen mit den Armen zu versöhnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Reichtum zum Laster und Armut zur Tugend werden soll; und in diesem Sinne ist die vorgeschlagene Ethik keine Form der Sklavenmoral. Nietzsche definiert die Sklavenmoral als das Gefühl, dass die Mächtigeren (oder Reichen oder Starken usw.) böse sind, indem sie so sind. Das ist nicht die Idee hier. Die vorgeschlagene Ethik der Besteuerung beruht auf der bloßen Vermeidung von Konflikten zwischen den Individuen; dies ist auch im Interesse der Mächtigen und Wohlhabenden.

Sie zielt auch nicht darauf ab, die Unterschiede zwischen den Menschen zu zerstören, wie es Rousseau vorschlug, da dies ein Verstoß gegen das Prinzip der Freiheit wäre. Ich stimme mit Nietzsche darin überein, dass Rousseau als extremer Verfechter einer Sklavenmoral angesehen werden muss, ein Mann, der die Wohlhabenden so sehr hasste, dass er eine neue Geschichte der Gesellschaft schuf (ein Hass, der in mit Rücksicht auf die extreme Armut der damaligen Zeit verständlich ist). In ihrem neuen Buch The Dawn of Everything erklären die Anthropologen David Graeber und David Wengrow, dass es keinen Grund gibt, an einen Zustand ursprünglicher Gleichheit zu glauben, wie er von Hobbes, Locke und Rousseau vorgeschlagen wurde. Stattdessen ist es sehr wahrscheinlich, dass in der frühen Menschheitsgeschichte nur wenige Gesellschaften wirklich egalitär waren, die meisten jedoch dafür sorgten, dass kein Mitglied hungern musste. So etwas wie dies ist was in meiner Vorstellung heute das Ziel eines ethischen Staates sein muss: Nicht, alle seine Mitglieder gleich zu machen, sondern jedem ein anständiges Leben zu ermöglichen.