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Finn Erik Führs              Pharell Jay Jeyakumar             Jesko Veenema

 

 

Kresilas

Dialog über Philosophie und Kunst

Die Figuren sind: Sokrates, stadtbekannte Nervensäge; sein Schüler Kriton, ein Philosoph; und Kresilas, ein Bildhauer. Ort des Gesprächs: Marktplatz von Athen, wo am nächsten Tag Kresilas neueste Statue, ein Bildnis des Staatsmannes Perikles, aufgestellt werden soll.

Es beginnt: Kresilas.

Kresilas kniet vor einer unvollendeten Statue und bearbeitet sie mit Hammer und Meißel. Als er gerade fertig ist, kommen Sokrates und Kriton herüber.

Kresilas: Sokrates, ich grüße dich! Wahrlich, ein Glück, dich hier zu anzutreffen. Siehe, ich vollendete soeben eine neue Statue unseres großen Staatsmannes Perikles (zeigt auf die Statue). Morgen soll sie eingeweiht werden sein – möchtest nicht auch Du mir die Ehre erweisen?

Sokrates: Sei gegrüßt, o Kresilas, großer Bildhauer! Schön ist sie geworden, deine Statue, und wahrlich, ich erkenne unseren Perikles wieder. Aber sag, warum soll ich morgen kommen, da ich sie doch heute schon bewundern kann?

Kresilas: Nun, mein Sokrates, das ist nun wieder einmal deine Art, auch das Gewöhnlichste in Frage zu stellen. Aber sei doch so gut und komme nur mir zuliebe. Nun aber sag, wer ist der schöne junge Mann, der dich hierher begleitet? (zeigt auf Kriton.)

Sokrates: Verzeih mein Kresilas, falsch lag ich in der Annahme, Du und mein Freund seiet schon bekannt miteinander. Es ist mein lieber Schüler Kriton, der mir in meiner Suche nach Weisheit nacheifert.

Kresilas: In der Tat bin ich ja schon mit vielen Deiner Schüler und Freunde bekannt: Kebes, Simmias, Xenophon, Aristippos und natürlich Manfred; diesen aber kannte ich noch nicht. Wahrlich, ein sonderbarer Schlag Mensch seid Ihr Philosophen! Dass Ihr schon in jungen Jahren solche Mühen auf Euch nehmt, um die Wahrheit zu erkennen. In Deinem Alter, o Kriton, da habe ich nichts anderes angestrebt als die Schönheit, und so wurde ich Künstler.

Sokrates: Nun, mein Kresilas, was aber bedeutet es, ein Künstler zu sein?

Kresilas: Es bedeutet, Kunstwerke zu schaffen. Ich zum Beispiel schaffe Statuen und dergleichen. (zeigt auf die Statue.)

Sokrates: Bedeutet dies aber nicht, etwas Bleibendes zu hinterlassen? Siehe, auch wenn Du Deine Arbeit niedergelegt hast, ja selbst wenn Du längst gestorben bist, Deine Statue wird dauern.

Kresilas: Gewiss.

Sokrates: Wäre nicht nach dieser Auffassung der Tanz keine Kunst? Denn indem der Tänzer seine Arbeit niederlegt, endet auch seine Kunst. Oder das Schauspiel? Denn indem der Schauspieler seine Arbeit niederlegt, endet auch das Theaterstück. Und doch nennen wir alle diese schöne Künste, wiewohl sie keine bleibenden Werke hinterlassen.

Kresilas: Freilich, dann kann es nicht wahr sein. So muss das Wesen der Kunst etwas anderes sein.

Sokrates: Was aber ist es, mein Kresilas? Siehe, jeder Beruf versteht sich auf seine Sache. Der Schuster etwa versteht sich aufs Schustern; der Bauer versteht sich auf den Ackerbau; der Jäger auf die Jagd, und so fort, in jeglichem Handwerk. Ist es nicht so?

Kresilas: So scheint es.

Sokrates: Wenn nun also jeder Beruf sich auf eine Sache versteht, worauf nun versteht sich der Künstler?

Kresilas: Da nun bin ich wohl überfragt, mein Sokrates, wie es immer geschieht, wenn man mit Dir redet. Aber erlaube mir, dass ich die Frage folgendermaßen zurückgebe: Wenn jeder Beruf sich auf seine Sache versteht, worauf versteht sich eigentlich die Philosophie?

Sokrates: Diese Frage, mein Kresilas, verdient wohl eine gründlichere Untersuchung. Ich frage mich, was wohl Kriton hier, der in der Philosophie von mir lernen möchte, darüber denkt. Denn wenn einer sein Leben einem Beruf widmet, so wäre es doch töricht, nicht zu wissen, worauf sich dieser Beruf versteht.

Kriton: Hast Du es nicht eben selbst gesagt, o Kresilas? Der Beruf des Philosophen ist das Streben nach der Wahrheit. Zwar können wir wohl nie sicher sein, die Wahrheit zu kennen; doch können wir versuchen, uns ihr zu nähern.

Kresilas: Ist aber nicht die Wahrheit bereits der Beruf der Wissenschaftler? Die Botaniker streben nach der Wahrheit über die Pflanzen, die Geometriker streben nach der Wahrheit über die Formen, die Astronomen streben nach der Wahrheit über die Sterne, und so fort in jedem Zweig der Wissenschaft. Welche Wahrheit also ist es, nach der der Philosoph strebt?

Sokrates: Darin scheinen zumindest Künstler und Philosoph einander zu ähneln: dass sie sich auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen. Denn der Künstler kann ein Dramatiker sein, ein Maler sein, ein Tänzer sein, oder, wie du, mein Kresilas, ein Bildhauer sein. So kann auch der Philosoph über alles Mögliche philosophieren: über die Seele, den Staat, das Wissen, die Tugend, und so fort. Ja sogar über das Wesen der Philosophie selbst kann er philosophieren, wie wir es gerade tun!

Kresilas: Das fasst die Sache doch noch nicht! Wenn einer ein Lied spielt, so ist er doch noch kein wahrhafter Musiker; und wenn einer eine Figur macht, so ist er doch noch kein Bildhauer. Und wenn einer im Staatsdienst ist, so ist er doch noch kein Philosoph. So scheinen wir dem Wesen der Sache noch nicht näher gekommen zu sein.

Kriton: Über all seine Gegenstände – Seele, Staat und so weiter – geht der Philosoph hinaus. Er betreibt nicht die Aktivität selbst, sondern er denkt darüber nach, wie diese betrieben wird und betrieben werden soll. Er steht über der Sache selbst, auf einer höheren Ebene.

Sokrates: Und gilt das nicht auch für den Künstler? Ein Musiker singt nicht einfach, er überlegt sich, wie gesungen wird und gesungen werden soll. Ist nicht also Kunst dasselbe wie Philosophie, mein Kresilas?

Kresilas: Wahrlich, mein Sokrates! Immer wunderlich sind Deine Schlüsse. Noch eben war ich fest der Meinung, Kriton hier verfolge ein gänzlich anderes Ziel als ich in meiner Jugend, und nun scheint es fast, als handle es sich ganz um dieselbe Sache! Zumal es wohl in den Wissenschaften immerzu Fortschritt und Weiterentwicklung gibt, doch jede Generation in Philosophie und Kunst ihren ganz eigenen Ausdruck findet.

Kriton: Ein wenig anders verwende ich doch meine Jugend, o Kresilas! Denn wo Du Dich mit der Darstellung von Körpern, Musiker sich mit der Ausführung von Liedern und Dramatiker mit der Gestaltung von gefühlsvollen Gesprächen beschäftigen, da denke ich über das gewöhnliche Denken und Urteilen der Menschen nach. Wir haben also doch die Wahrheit gefunden, die des Philosophen Sache ist: die Wahrheit über die Wahrheit. Beide aber sind Tätigkeiten, die wiederum Einfluss auf ihre Gegenstände nehmen, etwa auf die Wahrnehmung von Körpern oder das alltägliche Urteilen. Es sind Tätigkeiten, die unser naives Handeln umgestalten können.

Kresilas: Es wäre ja auch absurd, wollte einer Musik machen, ohne je von Liedern gehört zu haben – wir werden also wohl nur Künstler und Philosophen, um unser naives Handeln zu begreifen und es zu verändern.

Sokrates: Und wie Ihr sprecht, erweist ihr Euch beide, meine lieben Kresilas und Kriton, als wahre Philosophen und wahre Künstler!

Kriton wendet sich zum Publikum, tritt aus der Szene hervor. Sokrates und Kresilas nehmen im Hintergrund Platz.

Kriton: Dies, liebes Publikum, war ein lange Zeit verloren geglaubter, von uns aber rekonstruierter Dialog Platons, in dem der Philosoph Sokrates, sein Schüler Kriton und der Bildhauer Kresilas über das Wesen und das Verhältnis von Kunst und Philosophie disputieren. In diesem Dialog sind Ideen des zeitgenössischen Philosophen Alva Noë [Strange Tools, 2015] verarbeitet, mit dem wir uns in unserem Kurs beschäftigt haben. Die platonischen Dialoge sind selbst Beispiele für Noës Theorie. Sie sind keine Wiedergabe natürlicher Mündlichkeit, sondern eine Philosophie und Kunst des Gesprächs, indem Sokrates den alltäglichen Sprachgebrauch hinterfragt und Platon seinen Figuren eine ganz und gar künstliche und methodische Sprechweise beilegt. Wir danken Euch für Eure Aufmerksamkeit und geben Euch nun Gelegenheit, Fragen zu stellen.

Vorhang fällt.