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[Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung: Bei der Übertragung dieses Essays vom Englischen ins Deutsche bereiteten die zentralen Begriffe Schwierigkeiten. Zunächst entsprechen dem Englischen body im Deutschen zwei Wörter: „Leib“ und „Körper“. Ich habe mich für eine durchgängige Übersetzung mit „Leib“ entschieden, denn ein einziges Wort in der Ausgangssprache sollte – zumindest bei philosophischen Texten – auch mit einem einzigen Wort in der Zielsprache übersetzt werden; „Leib“ schien mir den besseren Beiklang zu haben, indem dieses Wort an den lebenden Organismus denken lässt, während „Körper“ eher an den toten Organismus und eine wissenschaftliche (anatomische, medizinische) Distanz erinnert. Das englische physical wurde mit „körperlich“, zweimal auch mit „physisch“ übersetzt, bodily hingegen mit „leiblich“, womit ich die Konnotation beider Wörter recht gut zu treffen glaube. Dann war die Übersetzung von soul, mind und intellect, die ich im Original je nachdem, welchen Aspekt ich betonen wollte, für dasselbe verwendete, schwierig. Um bei meinem Prinzip zu bleiben, Ausgangswörter durchgehend gleich zu übersetzen, wurde soul konsequent mit „Seele“, mind mit „Geist“ und intellect mit „Intellekt“ übersetzt, obwohl vor allem mind durchaus nicht bedeutungsgleich mit „Geist“ ist. Durch diese Konsequenz wurden z. T. die üblichen Wendungen „Leib und Seele“ sowie „Körper und Geist“ unmöglich („Leib und Geist“, „Leib und Intellekt“). Das von intellect abgeleitete intellectual mit „intellektuell“ zu übersetzen, schien mir unpassend, zumal es physical (also „körperlich“) gegenüber gestellt war. Ich wählte für intellectual daher „geistig“, ebenso für das einmal verwendete spiritual. – J. V., 08.06.2023]

 

[Vorangestelltes Zitat: „Dieser Leib, der mich gleichzeitig meiner Umwelt aussetzt und es mir ermöglicht, sie zu erfassen, ist mehr ich selbst als er mir gehört: Er verrät mich ebenso sehr, wie er mich offenbart. Nur insofern ich ein Leib bin, der mit dem Privileg des Fühlens ausgestattet und zur ‚absoluten Vermittlung‘ fähig ist, verwandelt sich mein Haben in Macht, mein Wissen in Sein. Und umgekehrt wird durch meinen Leib die Aufmerksamkeit auf mich selbst zur auf das Universum gerichteten Absicht.“

Rachel Bespaloff, „Notes sur Gabriel Marcel“ (1938), in: Id., Cheminements et carrefours, préf. de M. Jutrin. Paris: Vrin, 2004, S. 87-88.]

 

Jesko Veenema

Philosophie des Leibes

12. Mai 2023

 

I

Ein Schüler von Plotin, dem Begründer des Neuplatonismus, begann seine Biographie seines Lehrers mit der Bemerkung, Plotin habe sich „geschämt, im Leibe zu sein“. Dies wird durch Plotins mangelnde Hygiene und seine Ablehnung, gemalt zu werden, illustriert. (Seine Anhänger mussten ein Bildnis von ihm heimlich anfertigen.) Plotin war davon überzeugt, dass die physische Welt eitel und die Seele der einzige wertvolle Teil des Menschen sei.

Ich habe diese Anekdote immer als ziemlich exemplarisch für das philosophische Verhältnis zum Leib empfunden. In der Geschichte der Philosophie kann man immer wieder eine extreme Betonung des Geistigen und eine Vernachlässigung des Körperlichen, des Leibes, beobachten.

Kritiker des Christentums (z. B. Nietzsche) haben zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Tendenz im christlichen Denken ihren Höhepunkt erreicht hat. Es ist jedoch erwähnenswert, dass das Christentum den Menschen zu Beginn als ein leibliches Wesen betrachtete, also nicht dualistisch war. Die Offenbarung sagt die Auferstehung des Menschen als ganzen Wesens voraus, die Leiber sollen buchstäblich aus dem Grab auferstehen, so wie es auch bei Christus gewesen sein soll.

Das späte Christentum hörte jedoch auf, an eine nahe Apokalypse zu glauben, und entwickelte die Vision eines von der menschlichen Welt getrennten Jenseits; und trennte damit die Seele vom Leib – welche im Judentum und frühen Christentum untrennbar waren.

Aber auch wenn das späte Christentum diese Ansicht popularisiert und auf die Spitze getrieben hat, war die Idee nicht grundsätzlich neu, sondern wurde von Platon im Dialog über die Unsterblichkeit der Seele vorausgedeutet; und sogar schon vorher von den Pythagoräern, Kynikern und Stoikern, die die Überlegenheit der Seele über die körperlichen Bedürfnisse betonten. Ähnliche Ideen finden sich auch in anderen Kulturen, z. B. im Buddhismus – dessen Ziel es ist, die Seele von den leiblichen Bedürfnissen zu befreien – und in der Mythologie des alten Ägypten.

II

Ganze Kulturen und Epochen wurden von der Vorstellung beherrscht, der Leib sei der Seele[1] unterlegen, z. B. der Barock mit seiner Rede von der vanitas. Aber sie endeten immer nach einer Weile. Die Philosophie hingegen scheint mir diese Vorstellung im Laufe der Geschichte beibehalten zu haben.

Das gilt auch für Philosophen, die das Thema nicht vom orthodox christlichen oder kirchlichen Standpunkt aus betrachtet haben, allen voran Descartes.

Ich hoffe, es ist keine allzu gewagte Hypothese, dass ein Philosoph seinen Leib eher verachtet als der Durchschnittsmensch – und ich selbst muss gestehen, dass ich zu dieser Art von Menschen gehöre. Mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit ist oft ein Grund für höhere Bildung und intellektuelle Ausbildung – Zeit und Mühe werden anders investiert. Intellektuelle, sensible, introvertierte Persönlichkeiten ziehen sich auch eher in ihren Geist zurück als andere, so dass ihnen ihr Leib eher fremd ist. Zumindest wird die Hypothese durch die Biographien großer Philosophen gestützt: Kant hatte eine schmale Brust, Descartes war schwach und anfällig (er starb wahrscheinlich an einer Lungenentzündung), Hume war aufgrund einer Krankheit in seiner Kindheit fettleibig, Kierkegaard hatte einen Buckel und von Nietzsche brauchen wir gar nicht erst zu reden. (Dies ist nur eine allgemeine Beobachtung von mir, ebenso wie die Tatsache, dass ein überwältigender Teil der Philosophen nicht verheiratet war, wie Nietzsche in der Genealogie der Moral feststellte; natürlich gibt es Ausnahmen von der Regel).

Könnte dies der Grund dafür sein, dass Philosophen immer die Überlegenheit des Geistigen gegenüber dem Körperlichen betont haben – weil es für sie galt? Nietzsche hat so etwas in Bezug auf Schopenhauer angedeutet (wiederum in der Genealogie), aber er hat es nie explizit für den philosophischen Bereich postuliert. (Dasselbe könnte übrigens auch für viele religiöse Persönlichkeiten gelten.)

Ich selbst habe immer das Gefühl gehabt, dass die Philosophie einen unzureichenden Ansatz oder eine unzureichende Haltung zum Leib hat; aber gleichzeitig konnte ich nicht anders, als mit ihr zu sympathisieren. Ich hatte immer einen Widerwillen gegen die leiblichen Bedürfnisse, gegen das Essen, gegen den Schlaf. Aber ich habe aus erster Hand erfahren, dass die französischen Materialisten Recht hatten: Wenn man sich nicht um seinen Leib kümmert, leidet auch der Geist darunter.

III

In den letzten Jahrhunderten hat die Philosophie viele metaphysische Überzeugungen überwunden, so wie die Wissenschaft viele alte Aberglauben überwunden hat. Die Vorstellung, dass die Seele eine eigenständige, einheitliche Entität ist, wurde von mehr Philosophen und Wissenschaftlern entkräftet, als hier aufgezählt werden können; und die Vorstellung von einem geistigen Reich, das zwar getrennt, aber irgendwie mit unserer Welt verbunden ist, hat sich als reine Spekulation erwiesen.

Jetzt ist es an der Zeit, die Bedeutung des Leibes und die Abhängigkeit des Intellekts von ihm zu betonen. Ich möchte die folgenden vier Prämissen von jeder zukünftigen Philosophie angenommen haben: (i) Keine Form des Geistes – kein Gefühl, keine Wahrnehmung und kein Denken – kann ohne ein physisches Substrat existieren. Der Geist ist ein Verhalten der Materie. (ii) Der Geist unterliegt mehr den Gesetzen der Materie (der Physik), als der Leib (oder ein anderes materielles Substrat) den Gesetzen des Geistes unterliegt. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Hierarchie. (iii) Geist ohne physische Kraft ist nutzlos. (iv) Der Geist konstruiert seine Welt aus Rohdaten, aber er kann nichts ohne diese Daten erschaffen. Alle Daten müssen von den Sinnen geliefert werden, die Teile des Leibes sind.

Der Geist ist so mächtig geworden, dass er glaubt, er sei allmächtig. Das nenne ich den Größenwahn des Geistes. Wir müssen diesen Größenwahn überwinden, aber wir dürfen den Geist nicht gering schätzen. Seine Verblendung ist ein Zeichen für seine Fortschritte seit Beginn der Zivilisation. Nietzsche hat ihn den Egoismus des Geistes (oder des „Ich“) genannt, vgl. Also sprach Zarathustra. Der Geist ist so mächtig geworden, dass er sich selbst in der Lage sah, seine eigene Welt zu schaffen, eine Welt der Konzepte, Vorstellungen, Begriffe; und das war wohl auch die Absicht von Platons Welt der Ideen. Aber eine solche Welt gibt es nicht und kann es nicht geben. Es ist alles im Geist, d. h. alles im Kopf.

Ich wage zu behaupten, dass wir sogar die berühmte Formel des Aristoteles umkehren müssen: Aristoteles sagte, die Vernunft sei die Essenz (oder die Substanz) des Menschen, der Leib sei ein Akzidens – ich sage: Die Vernunft ist ein Akzidens, der Leib ist die Essenz des Menschen. Damit vervollständige ich einen Begriff des Leibes, der in Schopenhauers Überzeugung, der blinde Wille sei primär und der Intellekt sekundär, vorausgedeutet wurde.

IV

Ich hoffe, ich habe mich im dritten Abschnitt nicht zum Verfechter der reinen Irrationalität und des Instinkts gemacht. Ich halte sehr viel vom Geist, ja, ich halte ihn für das interessanteste und faszinierendste Phänomen, das unser Universum zu bieten hat – und dass wir uns um ihn kümmern und ihn um jeden Preis schützen müssen, solange die physikalische Realität dies zulässt (was leider nicht für die Ewigkeit sein wird, soweit wir heute von den Astronomen und Kosmologen wissen).

Glauben Sie mir: Ich habe die meiste Sympathie für die zweifelnden Leser dieses Stücks; ich selbst war lange Zeit nicht bereit, die Wahrheit des Leibes zu anzunehmen, und habe sie immer noch nur als eine intellektuelle Angelegenheit angenommen – ich habe sie noch nicht mit ganzem Herzen aufgenommen, kann ich sagen. Aber als ich in dieser Angelegenheit vorankam, konnte ich nicht anders, als meine Meinung zu ändern.

Der Geist war von Anfang an Gegenstand philosophischer Überlegungen. Dies ist ein weiterer Beweis für die introvertierte Tendenz der Philosophie; ein Philosoph ist jemand, der in sich selbst hineinschaut. Dies ist jedem klar, der sich nur einen Augenblick mit Platon (insbesondere mit dem oben erwähnten Dialog über die Seele), Descartes (insbesondere mit den Meditationen), Hume (insbesondere mit der Abhandlung über die menschliche Natur [Treatise on Human Nature]), Kant oder Schopenhauer beschäftigt hat. Die Bibliographie über die Natur der Seele ist überwältigend. Vielleicht ist sie das Einzige, womit sich die Philosophie überhaupt beschäftigt hat, in gewissem Sinne.

Ich schlage vor, dass es auch Zeit für eine Philosophie des Leibes ist. Eine Philosophie, die nicht nur die Prämissen annimmt, die ich oben festgelegt habe, sondern die sich auch für den Leib als Gegenstand philosophischer Reflexion und Untersuchung interessiert.

Philosophie ist natürlich eine Tätigkeit des Geistes. Und deshalb muss die Philosophie des Leibes den Leib mit den Augen des Geistes betrachten. (Ich hoffe, der Leser ist willens, diese bizarre Metapher zu anzunehmen.) Und sie muss das menschliche Verständnis für die Verbindung, für die Beziehung zwischen Leib und Geist vertiefen; für die Bedeutung des „im-Leibe-Seins“, eines so normalen und notwendigen Zustands, und doch so beschämend und schmerzhaft für Plotin und seinesgleichen (zu denen ich gehöre). Der Leib soll nicht des Geistes Schande sein; der Geist soll des Leibes Stolz sein!

V

Ich fürchte, dass eine vorübergehende Überschätzung des Leibes notwendig ist, um den Größenwahn des Geistes zu heilen. Darüber bin ich nicht glücklich. Langfristig sollten wir danach streben, eine Philosophie zu entwickeln, die weder den Geist über den Leib noch den Leib über den Geist stellt. Lange Zeit hatte der Geist das Sagen. Jetzt ist es an der Zeit, dem Leib zu seinem Recht zu verhelfen! Nur als gleichberechtigte Partner können beide zusammenarbeiten. Die Philosophie des Leibes soll Geist und Leib helfen, sich zu versöhnen. Sie ist eine Form der Mediation. Schließlich hoffe ich, dass wir in der Lage sein werden, Leib und Geist nicht mehr als zwei verschiedene Dinge zu betrachten, sondern als zwei Seiten derselben Medaille. Das wäre die wahrhaftige Erfüllung des Monismus.

Ich habe das Gefühl, dass ich all diese Gedanken schon seit einiger Zeit zum Ausdruck bringen wollte. Vage und unartikuliert waren sie schon da. Und ich finde es sehr bedeutungsvoll und wundersam, dass ich sie an einem Maitag in Olympia, Griechenland, niederschreibe. Olympia! Welcher Ort könnte besser geeignet sein, die Ganzheitlichkeit des menschlichen Leibes zu würdigen? Wo ist der Leib mehr gefeiert worden als hier?

Und Griechenland! Hellas! Ist es nicht das antike hellenistische Ideal, auf das ich zugehe? Dass die Bildungsanstrengungen die Ausbildung des Leibes nicht unterdrücken dürfen, dass der Intellekt nicht über dem körperlichen Streben vernachlässigt werden darf – dass Leib und Seele gleichermaßen gepflegt werden müssen? Ja, die moderne Philosophie muss zu diesem alten, aber nicht überholten Ideal zurückkehren.

Ich bin ein Fremder im Land des Leibes. Ich war verloren in den scheinbar endlosen Feldern des Geistes. Aber welches Geschenk, hier einzutreten! Welche Erfrischung! Welche Nahrung!


[1] Um der Einfachheit willen werde ich die Begriffe Seele [soul], Geist [mind] und Intellekt [intellect] in diesem Essay durchweg austauschbar verwenden.