Schopenhauer

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Schopenhauer, der Zerrissene

 

Ein Versuch über das Verhältnis von Wille und Intellekt bei Arthur Schopenhauer

von

Jesko Veenema

 

Schopenhauer

 

Was Schopenhauers Philosophie hauptsächlich fehlt, ist ein Begriff der Sublimation, mit dem zwischen den beiden Polen des Systems, dem Willen auf der einen und der Vorstellung auf der anderen Seite, vermittelt werden kann. Das Verhältnis von Wille und Intellekt, Schopenhauers Hauptgegenstand, bleibt rätselhaft, da beide Teile des Menschen, beide Seiten der Welt fremd nebeneinander stehen. Das aber ist nicht nur ein konzeptioneller Fehler, sondern sicher auch die Folge einer inneren Zerrissenheit, wie sie bei geistreichen Menschen häufig vorkommt und die Schopenhauer besonders intensiv erlebt haben muss. Schopenhauer ist der Philosoph der gescheiterten Sublimation, der Philosoph eines Seelenzustandes, in dem zwischen Geist und Körper, zwischen Intellekt und Trieb, zwischen Gehirn und Genitalien nicht mehr hinreichend vermittelt werden kann und entweder der Intellekt durch den Willen, oder der Wille durch den Intellekt tyrannisiert wird. Diesen Zustand will ich im Folgenden als Zerrissenheit bezeichnen.

Die Zerrissenheit lag freilich in Schopenhauers eigentümlicher Persönlichkeit begründet, ist aber zugleich ein allgemeines menschliches Phänomen. Es ist ein Missverhältnis zwischen einem sublimierten und einem „rohen“ Teil des Menschen, eine fehlgeschlagene Kommunikation. Der Intellekt hat sich vom Leib so sehr entfremdet, dass dessen Bedürfnisse ihm lästig, schließlich unerträglich werden; und er muss sich ihnen, die von Natur aus primär sind, doch immer wieder beugen. Der Versuch der Willensverneinung, darunter Schopenhauer nur die Askese rechnet, ich jedoch auch den Suizid als eine alternative Form der Selbstzerstörung summieren will, ist in diesem Zusammenhang das Aufbäumen des Intellekts gegen die leiblichen Bedürfnisse. Sublimation, wenn sie gelingt, nimmt die leiblichen Bedürfnisse auf, geht mit ihnen um, verfeinert sie, übt, sie zu beherrschen usw. Die radikale Askese, wie Schopenhauer sie vorstellt, hingegen sucht sie abzutöten, hat ein aggressives, destruktives Verhältnis zu ihnen.

Die Zerrissenheit in Schopenhauers Denken ist außerdem Ausdruck seiner Jugend, denn er war bekanntlich, als sein philosophisches System, dem er lebenslang treu blieb, in ihm heranreifte, noch ein Jüngling. Gerade für die Jugend, in der sowohl Intellekt (der Drang zur Vergeistigung) als auch der Wille – hier recht verstanden als Geschlechtstrieb – energisch sind, ist die Zerrissenheit typisch. Und schließlich ist sie auch typisch für die Epoche, der Schopenhauers Denken entspringt, nämlich die deutsche Romantik, in der, Jahrzehnte bevor Schopenhauers Pessimismus Aufmerksamkeit erregte, Jean Paul den Ausdruck „Weltschmerz“ prägte. (Vielleicht ist in der Tat der Pessimismus in der deutschen Philosophie ab den 1860er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg eine Art Abglanz der Romantik, ihre epigonale Epoche sozusagen.) Schopenhauer ist, obwohl der Bildung und oberflächlichen Gesinnung nach Humanist, der romantische Philosoph schlechthin: hat doch kein anderer seiner Zeit dem Irrationalen eine solche Stellung eingeräumt wie er.

Es ist oft behauptet worden, Schopenhauers Philosophie sei bemerkenswert einheitlich, und es ist tatsächlich bemerkenswert, dass alle Teile seiner eng zusammenhängenden und alle traditionellen Felder (Metaphysik, Epistemologie, Ethik, Ästhetik) abdeckenden Philosophie von denselben Grundgedanken und vor allem derselben Mentalität durchzogen sind. Doch ist Schopenhauers System doch nicht ganz, wie er selbst in der Vorrede zu seinem Hauptwerk behauptet hat, Ausdruck eines einzigen Gedankens, sondern sehr weniger, allerdings nicht ganz vereinbarer Gedanken. Ich möchte zeigen, dass die Widersprüche seines Denkens daher rühren, dass er, da ihm ein Begriff der Sublimation fehlt, auf halbem Wege zwischen dem traditionellen, d.h. platonisch-cartesianisch-christlichen oder kürzer: transzendenten, und dem modernen, d.h. monistischen, immanenten, Standpunkt stehen bleibt.

Schopenhauers größtes Verdienst ist meines Erachtens, den Primat des Willens herausgestellt zu haben. Vor aller Erkenntnis und Vernunft gibt es einen Trieb, der diese in Bewegung setzt und der schlechterdings nicht weiter durch Erkenntnis und Vernunft zu begründen ist. Die Erkenntnis ist sekundär, ein Mittel, nicht die Grundlage des Organismus. Das Irrationale geht dem Rationalen voraus, sowohl in der Entwicklung der Arten (die Schopenhauer, der noch keine Theorie der natürlichen Selektion kannte, als Streben des Willens nach höheren Objektivationen interpretierte) als auch in der Entwicklung des Einzelnen, schließlich auch in jeder einzelnen Tat. Statt aber als Ausdifferenzierung des Triebes, als partielle Verfeinerung des Willens wird der Intellekt (das Nervensystem) von Schopenhauer als Aufsatz dargestellt, der seiner Unterlage eigentlich fremd ist. Der Intellekt wird als Gegenstück des Willens eingeführt, nicht als ein Teil von ihm, ein sublimierter Teil, was er eigentlich ist. Schopenhauer räumt zwar mit dem alten Dualismus von Körper und Geist auf, setzt an dessen Stelle aber den neuen Dualismus von Wille und Vorstellung.

Dadurch erst wird annähernd denkbar, dass der Intellekt auch ohne den Willen bestehen könne, ein seltener Zustand, der Schopenhauer zufolge durch Kontemplation erreicht werden kann. Aber auch wenn der Intellekt ein bloßer Aufsatz des Willens ist, ist unklar, wie er ohne Willenskraft, d.h. ohne seine Existenzgrundlage, aufrechterhalten werden kann, warum also die Welt als Vorstellung nicht zusammenbricht, wenn der Wille fehlt. Was Schopenhauer eigentlich meint, ist eine Art der Betrachtung, in der wir an den Objekten kein bestimmtes Interesse nehmen; dem muss allerdings entgegen gehalten werden, dass wir – als „Informavoren“, als Informationsfresser – doch immer ein unbestimmtes Interesse an den Objekten nehmen, dass eine interesselose Betrachtung also nur in eingeschränktem Sinne möglich ist. Wir mögen beim Erkennen keine bestimmte Erkenntnis suchen, suchen aber doch nach Erkenntnis im Allgemeinen, d.h. wollen diese. (Dass wir dabei unwillkürlich verfahren, spielt ja nach Schopenhauers Begriffen keine Rolle, denn der Wille ist nicht nur die Willkür, sondern auch der unbewusste Trieb.) Da Schopenhauers Zerrissenheit sich in seiner Philosophie zwangsläufig von der intellektuellen Seite zeigt, darf es nicht überraschen, dass der Intellekt immerzu als der bessere, edlere Teil des Menschen auftritt. Mit welcher Dankbarkeit werden da etwa die Stunden der rein intellektuellen, vom Willen befreiten Anschauung beschrieben! Gleichwohl gibt Schopenhauer zu, dass der Intellekt als subjektives Korrelat des Nervensystems nicht die Vernichtung des individuellen Willens überdauern kann.

Richtig paradox wird es, wenn sich der Wille zur interesselosen, d.h. doch: willenlosen Betrachtung deutlich zeigt: im Genie, wo der Intellekt die Erfordernisse des Willens übersteigt. Schopenhauer beschreibt teilweise recht deutlich, welche Opfer das Genie seinen Werken und seiner für Betrachtung nötigen Muße zu bringen bereit ist, etwa Bescheidenheit im Lebenswandel; und doch sollen wir glauben, dass die eigentliche geniale Tätigkeit von Interesse frei ist! Es fehlt ihm eben ein Begriff der Sublimation, mit dem er die Vergeistigung als Prozess des genialen Menschen benennen kann. Objektivität begreift er noch, im Anschluss an seine philosophischen Vorgänger, als Abwesenheit eines individuellen Interesses, einer individuellen Befangenheit. Dem hat Nietzsche später eine überlegene Konzeption entgegengestellt: Objektivität als Gleichgewicht innerer Kräfte und Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln – eine Konzeption, welche die Objektivität als sublimierte Subjektivität deutet.

Nietzsche ist, nebenbei gesagt, der Philosoph der Sublimation, wo Schopenhauer der Philosoph der Zerrissenheit war, und geht weiter, wo der Meister auf halbem Wege stehen geblieben war. Nietzsches Philosophie behandelt die Sublimation der Objektivität aus der Subjektivität, der Logik aus der Unlogik, der Nächstenliebe aus dem Ressentiment, der Todessehnsucht aus dem Lebenswillen. Nietzsche setzt, bei aller Kritik an seinem Lehrer, doch auch fort, was Schopenhauer angestoßen hat, nämlich die Betonung des Irrationalen und die Bedingtheit aller Erkenntnis. Die abendländische Philosophie vor Schopenhauer, abgesehen von einigen Skeptikern und Radikalaufklärern (namentlich d’Holbach), ist eine ausgedehnte Selbstverherrlichung des denkenden Geistes. Schopenhauer dagegen führte die Unvollkommenheiten des Intellekts auf; Nietzsche setzte das beispielsweise in seinem Versuch über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne fort. Man kann von Schopenhauer auch heute noch lernen, der nur mit Abstrakta operierenden Vernunft einerseits zu misstrauen – auch ihrem äußeren Medium, der Sprache; oft habe ich gedacht, man hätte sich die Phase des logischen Positivismus sparen können, hätte man nur Schopenhauer gründlicher gelesen –; und zugleich ihre Möglichkeiten, auch in der abstraktesten, d.h. philosophischen, Form, wahrzunehmen.

Die Wurzel von Schopenhauers Pessimismus ist eben die Zerrissenheit, das Missverhältnis von Wille und Intellekt. Vonseiten des Intellekts ist es die Frustration über die Unbelehrbarkeit der niederen Triebe, denn wie Schopenhauer gerne Seneca zitiert: velle non discitur (zu wollen lernt man nicht). Da die körperlichen Bedürfnisse nicht angemessen aufgenommen (sublimiert) werden, treten sie immer störend an den Intellekt heran, was ein dauerndes Gefühl der Ruhelosigkeit erzeugt, das nur in der Kontemplation verstummt. Vonseiten der niederen Triebe aber dient der sublimierte, also „höheren Zwecken“ zugewandte Intellekt ihnen oft nur ungenügend. Dabei handelt es sich nicht um die persönliche Krankheit Schopenhauers, sondern um ein Missverhältnis, das schlechterdings jedem Kulturmenschen, vielleicht gar manchem domestizierten Tier, eigen ist. Bei ausgeprägtem Intellekt und besonderer Zerrissenheit entsteht naheliegenderweise der Wunsch danach, den störenden Leib abzuwerfen und eine rein geistige Existenz zu führen; ein Wunsch, der seinen krassesten religiösen Ausdruck vielleicht in der Gnosis hat, der sich aber auch durch die Philosophiegeschichte zieht.

Trotzdem erkennt Schopenhauer stellenweise scheinbar, dass das Zusammenspiel von Wille und Intellekt – nicht der reine, unbewusste Wille – Ursache der Leiden ist. Der Wille vor aller Erkenntnis, in der anorganischen Natur, kennt im Grunde auch keine Leiden. Eine Ahnung davon setzt in den Pflanzen ein, in den höheren Tieren sind sie schon wirklich da; im Menschen werden sie potenziert. Erst in der Welt als Vorstellung werden laut Schopenhauer aus einem Willen die unzähligen Erscheinungen, die einander widerstreiten, die vergänglich sind, denen der Wille immerfort nachstrebt, ohne doch etwas zu gewinnen. Also da, wo Wille und Vorstellung sich verbinden, ist die gewöhnliche Welt da, und diesen Zustand betrifft Schopenhauers Pessimismus. Der erkenntnislose Wille und die interesselose Vorstellung hingegen sind zwei Arten der Seligkeit, obwohl erstere größtenteils ignoriert wird.

Als zwei gegensätzliche Erben Schopenhauers sind Nietzsche und E. M. Cioran der Betrachtung wert. Nietzsche, als Philosoph der Sublimation, ist zwar kein Optimist im eudämonologischen und schon gar nicht im theologischen Sinne, aber doch Optimist in Bezug auf die Möglichkeiten der Weiterentwicklung des menschlichen Geistes, d.h. der Sublimation. Sein Ideal des Übermenschen meint einen weiterentwickelten Menschen, der die Zerrissenheit zwischen Geist und Körper überwunden hat; nicht umsonst spricht Zarathustra abfällig von den Verächtern des Leibes: der Geist soll sich nicht als feindliches Prinzip, sondern als Teil und Diener des Lebens gebärden. E. M. Cioran ist in Bezug auf die Weiterentwicklung des Geistes und konkret die Möglichkeiten menschlicher Zivilisation hingegen pessimistisch. Bei ihm ist der Geist ein hoffnungslos destruktives Prinzip und darum der Mensch, zumal der zivilisierte Mensch, das schrecklichste aller Wesen. Statt seine Zerrissenheit weiter voranzutreiben, sollten wir Cioran zufolge lieber ins Unbewusste zurücktreten. War der Intellekt bei Schopenhauer noch als erlösendes Prinzip vorherrschend, ist er bei Cioran das hauptsächliche Übel, da er ihn wie Nietzsche nur als Teil des Willens anerkennt. Erlösungsperspektive ist allein der erkenntnislose Wille, die niederen Stufen seiner Objektivation.

Die Erlösung, die Schopenhauer skizziert, die Verneinung des Willens zum Leben, ist vielleicht der größte Schwachpunkt seiner Philosophie. Es ist nicht einzusehen, wie dem Menschen von dem ganz immanenten Standpunkt seiner Natur aus der Sprung in die Transzendenz gelingen soll. Am ehesten ist noch denkbar, dass der Wille durch den Intellekt eine Ahnung von seiner Grenzenlosigkeit und Unvernunft bekommt und sich infolgedessen gegen sich selbst wendet; also der Wille den Willen aufhebt. Also cioranesk. Das kann aber doch nur indirekt erfolgen, indem die organischen Grundlagen des Willens angegriffen werden, also durch Suizid, da dem vegetativen Willen jene Erkenntnis nicht zugänglich ist; hier zerreißt sich der Mensch tatsächlich. Wie bei der Verneinung des Willens zum Leben ist es auch beim Mitleid nicht nachvollziehbar, wie die Einsicht hinter den Schleier der Maja möglich sein soll. Schopenhauer fehlt gerade in der Moral der Begriff der Sublimation, der für die moralische Erziehung unerlässlich ist. Dadurch bleiben seine moralischen Typen simplizistisch: Es sind entweder Hobbessche Egoisten (Güte ist hier gleich Willensschwäche) oder uneigennützige Heilige. Unklar bleibt, wie aus jenen diese werden können. Und wenn die Begriffe gestattet sind: er bleibt zwischen Sklaven- und Herrenmoral stehen. Einerseits spricht er vom geringen Wert der meisten Menschen und schreibt nur für andere Genies, andererseits reicht er sein Werk „der Menschheit“ hin. Mal predigt er ein Pathos der Distanz, dann wieder Mitleid, und das dann aber wieder nur zum höheren Zwecke der Willensverneinung. Er ist auch hier zerrissen. Unklar bleibt zuletzt sogar, warum wir zur Erlösung kommen sollen: einerseits ist ja von der ewigen Gerechtigkeit die Rede, und wir tragen die Quelle unsrer Leiden in uns selbst; dann heißt es, hin und wieder, wir fühlten, dass uns ein anderes, besseres Dasein gemäß sei (ein Schelm, wer an den Himmel denkt!).

Um der Metapher der Zerrissenheit abschließend noch zusätzliche Berechtigung zu verschaffen, denke man sich den großen Philosophen, wie er in seinen Schoß herabblickt. Die Distanz zwischen dem Gehirn, dem Sitz des Intellekts, und den Genitalien, dem Sitz des Willens, veranschaulicht das Spannungsverhältnis. Der Intellekt wendet sich dem Willen zu: Der Kopf schaut herab in den Schoß. Wer die Befremdung, vielleicht sogar einen gewissen Ekel oder ein Erschrecken, die Schopenhauer beim Blick auf die eigene sexuelle Regung empfunden hat, nachfühlen kann, der wird eben auch die Zerrissenheit überhaupt verstehen. (Es war kein Zufall, dass er der Geschlechtsliebe mehr Aufmerksamkeit gewidmet hat als irgendein anderer Philosoph vor ihm.) Man denke sich nun noch die Distanz zwischen Kopf und Schoß, zwischen Intellekt und Wille immer größer werden: so muss es den Menschen doch zerreißen! Schopenhauer hat trotzdem versucht, es in ein System zu fügen, und im Rahmen seiner Möglichkeiten ist ihm doch eine beeindruckende Deutung der Welt gelungen, die bloß schlechterdings nicht widerspruchslos sein konnte. Sie ist aufgeklärt, und doch religiös; wissenschaftlich, und doch metaphysisch; rationalistisch, und doch irrationalistisch; immanent, und doch transzendent; klar, und doch mystisch. Gerade in seiner Zerrissenheit, in seiner Zwiespältigkeit hört Schopenhauer nicht auf, uns zu faszinieren und überrascht trotz der Begrenztheit durch den wissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit, trotz seiner veraltet scheinenden Begriffe, uns immer wieder mit Erkenntnissen von äußerster Modernität; und gerade als Philosophie des Übergangs verdient sein Werk unsere Aufmerksamkeit, und berührt, immer lebensnah und scharfsinnig, unsere größten Fragen.

 

Bonn, im Mai 2024.