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Jesko Veenema

Schopenhauer über Wissenschaft, Kunst und Philosophie

2023

 

1. Schopenhauers Wissenschaftstheorie: Der Satz vom Grunde

Die Kunst versucht, das Einzelne aus dem Weltgefüge herauszunehmen und seine Idee zu erfassen (s. u.); die Wissenschaft versucht hingegen, seine kausale Einbettung in dasselbe zu ergründen, d. h. seine Ursachen und Wirkungen. Ihre Leitfrage ist daher: warum?[1] Ihr Prinzip ist der Satz vom zureichenden Grunde (jedes Seiende ist kraft eines zureichenden Grundes, dass es sei; alles hat einen Grund), der in Schopenhauers deterministischer Weltanschauung eine zentrale Rolle spielt. Er hält ihn für so grundlegend und unzweifelhaft wie den Satz der Identität (x ist x) und den Satz des ausgeschlossenen Dritten (jede Aussage ist entweder wahr oder falsch), zählt ihn also zu den „metalogischen“ Wahrheiten.[2] Ihn legt er der verstandesmäßigen, wissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde. Sein Begriff der Wissenschaft umfasst dabei die Natur- und Geistes- ebenso wie die Formalwissenschaften, da der Satz vom Grunde für verschiedene Klassen von Objekten – und für das Subjekt – in vier verschiedenen Gestalten auftritt, welche sich den verschiedenen Erkenntnisarten der Physik, der Mathematik usw. zuordnen lassen.[3]

Unter Anwendung des Satzes vom Grunde verfolgt der Wissenschaftler alle Erscheinungen zurück und kann diese nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten erklären. Dabei vermag er jedoch nicht, die Welt als ganze zu erfassen, sondern kann jeweils nur einzelne Erscheinungen oder Gruppen erklären. (Der Satz vom Grunde ist der Welt immanent, nicht transzendent, d. h. er kann auf jedes Ding in der Welt angewandt werden, jedoch nicht auf die Welt selbst.) Darum nennt Schopenhauer die Wissenschaft trotz all ihrer Leistungen ungenügend. Sie kann zugleich auch das Einzelne, in dem sich das Ganze spiegelt, nicht recht erfassen, d. h. nicht seine Idee erfassen, weil sie nicht es selbst, sondern seine kausalen Relationen untersucht. Ihre Frage ist: warum? – Nicht: was?[4]

Über das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft äußert Schopenhauer sich zweideutig. Er sagt zwar, jedes zeitgemäße System der Philosophie müsse mit der (Natur-)Wissenschaft in Zusammenhang stehen;[5] zugleich meint er, ein Fortschritt in der Physik könne niemals einen Fortschritt in der Metaphysik bewirken.[6] (Metaphysik ist freilich nur ein Teilbereich der Philosophie.) Im Allgemeinen betont Schopenhauer, dass die Philosophie den Wissenschaften zumindest nicht ohne Weiteres widersprechen darf.[7]

Die Wissenschaft ist für den Durchschnittsmenschen, der das Privileg der Bildung genießt, erlernbar. Im Unterschied dazu, meint Schopenhauer, erfordert die Kunst eine natürliche Begabung, die nicht durch Bildung erreichbar ist.[8] Das Genie – der geistig Überlegene und Schöpferische – kann nicht bei der Wissenschaft stehen bleiben, welche sein „metaphysisches Bedürfnis“[9] nicht zu befriedigen vermag. Es verlangt nach Kunst und – Philosophie.[10]

2. Schopenhauers Ästhetik: Die Erkenntnis der Ideen

Charakteristisch für die Philosophie Arthur Schopenhauers ist seine hohe Bewertung der Kunst als einer Art praktizierter Philosophie. Für ihn war sie ein Mittel, über die Einzelerfahrung hinauszugehen und die Idee hinter jeder Sache zu schauen; dies erhebt den Betrachter, wenn auch nur für Augenblicke, vom Individuum zum reinen Subjekt der Erkenntnis: der Wille verstummt und Seelenruhe tritt ein – eine Erlösung auf kurze Zeit („nicht […] eine dauernde Freilassung, sondern bloß […] eine kurze Feierstunde“). Das klingt sehr mysteriös, im Folgenden soll deutlich werden, was damit gemeint ist.[11]

Die „Idee“ hat Schopenhauer von Platon, der darunter eine Art Urbild versteht, das hinter den einzelnen Erscheinungen steht und in diesen verwirklicht wird. Das Verhältnis des Schopenhauerschen zum platonischen Ideenbegriff ist umstritten, zumal Platon seine Ideenlehre nur andeutungsweise und unterschiedlich in seinen Dialogen entwickelt hat. Die Idee ist bei Platon der Gegenbegriff zur Erscheinung; während diese sinnlich erfahrbar ist, kann jene nur geistig oder seelisch erkannt werden (d. h. bei Platon dadurch, dass wir die Ideen aus einer Zeit vor der Geburt kennen und uns an sie beim Anblick der Erscheinungen erinnern). Beispiele für Ideen sind der Mensch an sich, das Schöne an sich oder der Kreis an sich; ihnen steht der einzelne Mensch, eine schöne Sache, ein konkreter Kreis gegenüber. Das Gegenstück zur Erscheinung, auch Objekt genannt, ist bei Schopenhauer nicht die Idee, sondern der Wille (bei Kant: Ding an sich). Der Wille ist das Grundprinzip der Welt, das sich in allen Erscheinungen der Welt ausdrückt; er „objektiviert sich“, d. h. wird zum Objekt, zur Erscheinung. Die Ideen, die Schopenhauer von Platon – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad – übernommen hat, stehen bei ihm zwischen dem völlig gestaltlosen Willen (Ding an sich) und der einzelnen Erscheinung als eine Vorstufe zur konkreten Objektivation.[12] Da der Wille das Grundprinzip der Welt ist, ist er auch der Urgrund des Lebens.[13] Der Intellekt (zusammengesetzt aus Verstand und Vernunft) oder auch: das Erkenntnisvermögen ist daher sekundär, d. h. dem Willen untergeordnet. Er ist nur ein Werkzeug des ursprünglich blinden, bewusstlosen Willens.[14] Doch hält Schopenhauer eine Befreiung des Intellekts vom Willen zumindest für Augenblicke für möglich, sofern ein gewisses intellektuelles Übergewicht vorherrscht, welches über die Anforderungen des Willens hinausgeht und also nicht seiner ständigen Herrschaft unterworfen ist. Während der gewöhnliche, dem Willen unterworfene Intellekt den Blick stets auf die einzelne Erscheinung in ihrem Verhältnis zu seiner Absicht und also in ihrer Verflechtung in das kausale Weltgefüge gerichtet hat, kann der geniale oder wenigstens bessere Intellekt sich zumindest auf Augenblicke von dieser Sichtweise befreien. Er schaut die Welt uninteressiert, d. h. absichtslos an; darum sieht er die Sache an sich, losgelöst von den zahlreichen (kausalen) Relationen, in denen sie mit anderen Vorstellungen und zu seinem Willen, zu sich selbst steht.[15]

Diesen Modus der Betrachtung (Kontemplation) hält Schopenhauer für willenlos: Es ist eine Tätigkeit des Intellekts, der für kurze Zeit nicht dem Willen dient. Vom menschlichen Geist, der aus Intellekt (Erkenntnisvermögen) und Wille (Trieb) zusammengesetzt ist, bleibt dann nur jener übrig. Durch die Befreiung von seinen persönlichen Interessen hört der Mensch in einem solchen Zustand gewissermaßen auf, Individuum (Subjekt des Wollens) zu sein; er vergisst alle seine individuellen Umstände und Bedürfnisse. Er wird reines Subjekt der Erkenntnis, d. h. existiert nur noch als logischer Widerpart der objektiven (= vorgestellten, erscheinenden) Realität, als dasjenige, für das diese da ist.[16] Schopenhauer beschreibt diesen Zustand als eine Art vorübergehende Erlösung, in der der Mensch sich über die Leiden seines Trieblebens hinwegsetzt und sich über alle Hindernisse und Widrigkeiten, die ihm das praktische Leben in den Weg stellt, erhebt. Es ist eine Art von „Selbstverleugnung“.[17]

Die Kunst leitet nach Schopenhauer daher zur Resignation hin. Die Resignation, d. i. die vollkommene Verneinung des Willens, ist das Ideal seiner praktischen Philosophie.[18] Das große Kunstwerk wirkt daher als „Quietiv“, ein Gegenbegriff zum den Willen anstachelnden Motiv. Es darf also auch keine Begehrlichkeiten wecken, d. h. den Willen affizieren. Ein Kunstwerk ist umso besser (= schöner), je besser es den Betrachter zur Erkenntnis der Idee hinleitet, d. h., je reiner die Idee darin ausgedrückt ist.[19]

3. Schopenhauers Metaphilosophie: Eine Begriffskunst

Für Schopenhauer ist die Philosophie, obwohl sie sich, wie die Wissenschaft, abstrakter Begriffe bedient, keine Wissenschaft, sondern eine Kunst.[20] Daraus erklärt sich auch, dass Schopenhauer selbst nicht nur in der akademischen Philosophie, sondern auch in der Literatur rezipiert wurde; er sah nicht nur in seinem Denken, sondern auch in seiner Darstellung seine besondere Leistung und legte großen Wert auf einen guten Stil.[21]

Die Philosophie versucht, wie die Kunst, das Wesen der Dinge, die Ideen dahinter zu greifen, nicht ihr Verhältnis untereinander; und also auch das Wesen der Welt.[22] Also ist auch der Philosoph ein Künstler und benötigt Genie (im Unterschied zum Wissenschaftler).[23] Er redet zur Vernunft, d. h. in Begriffen. (Bei Schopenhauer ist die Vernunft das Vermögen der Begriffe.[24]) Die Begriffe, durch Worte fixierte Abzüge (Abstraktionen) der Erfahrung, sind der Stoff der Philosophie, dem Marmor des Bildhauers oder der Farbe des Malers zu vergleichen. In den Begriffen wird die ganze Welt für die Vernunft aufgefangen, und in der wahren Philosophie wiedergegeben. Diese ist also eine Wiederholung der Welt in Begriffen.[25]

Wie die Kunst dient die Philosophie daher nicht der Erklärung bestimmter Phänomene in der Welt. Auch sie fragt nicht nach dem Warum, sondern nach dem Was der Dinge; der Satz vom Grunde ist nicht ihr Prinzip.[26] Wie das Kunstwerk zur Idee hinführt, ist der Begriff das Gegenstück zur Idee; er führt für die Vernunft wieder das zusammen, was in der Vorstellungswelt vereinzelt erschien.[27] Darum spiegelt die Philosophie die Ideenwelt wider; wozu die Begriffe unvollkommene Hilfsmittel sind. Da die Begriffe „leblos“ und von der Erfahrung bloß abgezogen sind, kann auch die Philosophie die Kunst, die in der Anschauung verwirklicht wird, nicht ersetzen. Die Philosophie ist insofern der abstrakte, vernünftige Kommentar zur Kunst; umgekehrt die Kunst der Kommentar zur Philosophie. So ergänzen sich Kunst und Philosophie als verschiedene Modi, die ihren Gegenstand und ihre Frage (was?) teilen.[28] Beide bleiben darüber hinaus insofern subjektiv, als sie, anders als die Wissenschaft, dem „Pöbel“ niemals plausibel gemacht werden können.[29]

Schließlich gibt Schopenhauer auch einmal zu, dass die Philosophie doch auch eine Art Wissenschaft ist, da sie die Idee nicht wie die Kunst intuitiv, sondern abstrakt darstellt. Etwas in Begriffen Niedergelegtes ist immer eine Art von Wissen; folglich hat die Philosophie auch eine wissenschaftliche Seite. Sie vereinigt Kunst und Wissenschaft.[30] Diese Einordnung steht aber zurück hinter der sich ständig wiederholenden Mahnung: „Der Philosoph vergesse nie, daß er eine Kunst treibt und keine Wissenschaft.“[31]


[1] Vgl. Arthur Schopenhauer (1892): Neue Paralipomena. Hrsg. v. Eduard Grisebach. Leipzig: Reclam. §§ 11, 13. Es handelt sich um den vierten Band des von Grisebach auf Grundlage der Originalmanuskripte herausgegebenen handschriftlichen Nachlasses. Der Text weicht von der Edition Julius Frauenstädts (1862) sowie der 1851 erschienenen ersten Auflage der Parerga teils erheblich ab. Es wird nach Paragraphen (Aphorismen) zitiert; im Folgenden abgekürzt als NP. (Bekanntlich ist Schopenhauers Philosophie sozusagen wie aus einem Guss, und die angeführten Stellen sind nur beispielhafte Belege für die zusammengefassten Ansichten. Tatsächlich durchziehen diese sein ganzes Werk und finden sich in unzähligen Variationen wiederholt.)

[2] Arthur Schopenhauer (3. Aufl. 1859): Die Welt als Wille und Vorstellung. Online unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/Schopenhauer,+Arthur/Die+Welt+als+Wille+und+Vorstellung, § 15/S. 113. Es handelt sich um die Digitalisierung der Zürcher Ausgabe (Zürich 1977), deren Seitenzahlen angegeben werden. Im Folgenden abgekürzt als WWV; wenn zusätzlich nach Paragraphen zitiert wird, stammt die Stelle aus dem ersten, bei Kapiteln aus dem zweiten Band des Hauptwerks.

[3] NP § 11

[4] NP §§ 13, 15

[5] NP § 156

[6] NP § 157

[7] NP § 156

[8] NP § 18

[9] Begriff aus WWV Kap. 17 

[10] NP §§ 25 f.

[11] WWV Kap. 29/430 ff.

[12] WWV § 31/S. 221-226; § 25/S. 176

[13] WWV § 29/S. 214

[14] WWV Kap. 19/S. 234

[15] WWV Kap. 29/430 ff.

[16] NP § 11

[17] WWV Kap. 30/S. 435

[18] WWV § 68/S. 469

[19] WWV § 48/S. 294

[20] NP § 21

[21] NP § 532 u. überhaupt Kap. XVIII

[22] NP § 28

[23] NP § 26

[24] WWV Kap. 6/S. 77-82

[25] NP §§ 9, 13, 28

[26] NP §§ 10, 13

[27] WWV § 49/S. 294 f.

[28] NP § 25

[29] NP §§ 18, 23, 26 f.

[30] NP § 28

[31] NP § 13