Abtreibung

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„Für mich sorgen sie alle: Kirche, Staat, Ärzte und Richter.

Ich soll wachsen und gedeihen; ich soll neun Monate schlummern; ich soll es mir gut sein lassen – sie wünschen mir alles Gute. Sie behüten mich. Sie wachen über mich. Gnade Gott, wenn meine Eltern mir etwas antun; dann sind sie alle da. Wer mich anrührt, wird bestraft; meine Mutter fliegt ins Gefängnis, mein Vater hintennach; der Arzt, der es getan hat, muß aufhören, Arzt zu sein; die Hebamme, die geholfen hat, wird eingesperrt – ich bin eine kostbare Sache.

Für mich sorgen sie alle: Kirche, Staat, Ärzte und Richter.

Neun Monate lang.

Wenn aber diese neun Monate vorbei sind, dann muß ich sehn, wie ich weiterkomme.

Die Tuberkulose? Kein Arzt hilft mir. Nichts zu essen? keine Milch? – kein Staat hilft mir. Qual und Seelennot? Die Kirche tröstet mich, aber davon werde ich nicht satt. Und ich habe nichts zu brechen und zu beißen, und stehle ich: gleich ist ein Richter da und setzt mich fest.

Fünfzig Lebensjahre wird sich niemand um mich kümmern, niemand. Da muß ich mir selbst helfen.

Neun Monate lang bringen sie sich um, wenn mich einer umbringen will.

Sagt selbst:

Ist das nicht eine merkwürdige Fürsorge –?“ – Kurt Tucholsky (1931)

Abtreibung nach dem dritten Monat (1902)

Die Abtreibung ist eine besondere Form der Tötung: Es handelt sich um den Abbruch einer Schwangerschaft durch das Herbeiführen einer Fehlgeburt oder die Entfernung des Embryos oder Fötus aus der Gebärmutter. Dabei kommt das Embryo bzw. der Fötus ums Leben. Künstliche Schwangerschaftsabbrüche waren und sind in fast allen Kulturen verbreitet. Die Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Abtreibung und ihre Abgrenzung vom Mord geht bis auf die Antike zurück und dauert bis heute an. Im angelsächsischen Sprachraum haben sich für die entgegengesetzten Positionen in der Abtreibungsdebatte die Schlagwörter pro-life („für das Leben“, d. h. gegen Abtreibung) und pro-choice („für die Wahl“, d. h. gegen Abtreibungsverbote) durchgesetzt. Diese Positionen lassen sich allerdings weiter differenzieren: So halten manche Pro-Lifer Abtreibungen in bestimmten Fällen für legitim, z. B. wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande kam.

Altertum

Schon in der Antike gab es Positionen gegen künstliche Schwangerschaftsabbrüche; so durfte ein Arzt, der den Hippokratischen Eid ablegte, einer Frau kein Abtreibungsmittel verabreichen. Dennoch wurde die Abtreibung weniger problematisiert als zu späteren Zeiten, z. T. überhaupt nicht. Im römischen Recht war sie legal, wenn der Vater einstimmte, konnte andernfalls aber verfolgt werden. Schon hier zeigt sich Verflechtung mit der Frauenunterdrückung, da die Leibesfrucht nicht als Körperteil und Eigentum der Schwangeren, sondern als Eigentum des Vaters angesehen wurde.

Christentum

Großen Einfluss auf die Abtreibungsdebatte haben nach wie vor religiöse Dogmen. Abtreibung wird oft als Eingriff in den göttlichen Schöpfungsakt neuen Lebens angesehen (wie z. B. auch Verhütung).

Im Christentum wurde der Schwangerschaftsabbruch schon früh als Sünde deklariert. Diese Umwertung verläuft parallel zur Verdammung der Tötung kleiner Kinder (Infantizid), auch Neugeborener (Neonatizid), die zuvor durchaus nicht selten war und bis heute in vielen Kulturen verbreitet ist. Der moralische Unterschied zwischen der Tötung geborener und ungeborener Kinder wird im Christentum im Allgemeinen nicht anerkannt. Dagegen steht die einflussreiche Idee der Sukzessivbeseelung, die auf Aristoteles zurückgeht.

In der Neuzeit entschied sich die katholische Kirche schließlich aber für die konkurrierende Lehre der Simultanbeseelung, d. h. einer vollständigen Beseelung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Später setzte man dieses Ereignis oft mit der Befruchtung gleich. Heute wird die Abtreibung von der katholischen Kirche als Sünde verurteilt, ebenso von den orthodoxen und vielen protestantischen Kirchen.

Islam

Da der Koran keine direkten Vorgaben zum Schwangerschaftsabbruch macht, ist dieser im Islam umstritten. Hauptquelle der Diskussion sind die Hadithen, Überlieferungen über Leben und Lehre des Propheten Mohammed. Manche Strömungen des Islam glauben an die Beseelung im Augenblick der Befruchtung und verbieten Abtreibung vollständig. Die Hadithen sprechen jedoch eher von Sukzessivbeseelung, die die Abtreibung je nach islamischer Rechtsschule erst dem 120. Tag der Schwangerschaft ausschließt.

Peter Singer

Viele moderne Philosophen widersprechen der von christlichen Pro-Lifern vertretenen Anschauung von der „Heiligkeit des Lebens“ (engl. sanctity of life), so etwa der australische Philosoph Peter Singer in seiner Praktischen Ethik (1979). Er lässt ein grundsätzliches Tötungsverbot (Schmerzen bei der Tötung und andere mögliche Nebeneffekte beiseitegenommen) nur für Lebewesen mit Zukunftsbewusstsein gelten, da nur solche sich die Fortsetzung ihres Lebens bewusst wünschen können. Singer erkennt dabei an, dass die Geburt als Einschnitt ethisch gesehen keine Rolle spielt, wie es Pro-Lifer behaupten, und hält daher auch bestimmte Infantizide für ethisch zulässig oder sogar opportun. Gegen Singers Position lässt sich einwenden, dass ein zeitweiliges Aussetzen des Zukunftsbewusstsein – z. B. der Schlaf – nicht das Lebensrecht eines Lebewesens aufhebt. (Siehe die entsprechenden Verweise auf Singer in den Texten zu Mord und Tötung von Tieren.)

Feministische Ansätze

Feministische Theorien beleuchten hingegen die Einschränkung der körperlichen Selbstbestimmtheit von Frauen, die mit Abtreibungsverboten einhergeht. Insbesondere wird die patriarchale Enteignung des weiblichen Körpers kritisiert. Die Geburt wird hier als relevanter Einschnitt betrachtet, da das Kind vor der Geburt ein Teil der Mutter sei und dieser daher die Entscheidung über sein Leben obliege. Dies wird in dem Pro-choice-Slogan „My body, my choice“ (engl. „Mein Körper, meine Entscheidung“) ausgedrückt. Eine bekannte Vertreterin dieser Richtung war die amerikanische Philosophin Judith Jarvis Thomson mit ihrem Essay A Defense of Abortion (engl. „Eine Verteidigung der Abtreibung“, 1971).

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