Suizid

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„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ – Albert Camus (1959: 9).

Als einziges Lebewesen ist nur der Mensch in der Lage, sein Leben freiwillig zu beenden (Améry 1983: 53, Cioran 2018: 50). Die Mittel dazu sind zahlreich und vielfältig, ebenso die Motive. Der Suizid ist zwar immer ein anomales Phänomen, doch ist er auch universal und kam zu allen Epochen und in allen Teilen der Welt vor. Schon in unserer Sprache zeigt sich eine moralisch deutlich negative Wertung des Suizids. Mit dem Begriff des „Selbstmordes“ wird er unter den Begriff des Mordes, also einer unrechtmäßigen, verwerflichen Tötung, gebracht. Man spricht davon, ihn zu „begehen“, wie ein Verbrechen. Neutrale Alternativen zum „Selbstmord“ sind die Begriffe „Suizid“ und „Selbsttötung“; dem Begriff „Freitod“ wird unterstellt, er sei zu positiv konnotiert.

[Bild: Manet, Der Suizid]

Der Suizid als ehrenhafter Tod in der Antike

In der Bewertung des Suizids gibt es zwischen den Epochen und Völkern große Unterschiede. In vielen Kulturen gilt der Suizid als ehrenhafter Tod, so in Japan oder dem alten Rom. Der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca etwa empfahl, sich auf die Selbsttötung einzustellen, um sein Leben jederzeit beenden zu können:

„Wer gelernt hat zu sterben, hat verlernt, Sklave zu sein und steht über (in jedem Fall außerhalb von) jeder fremden Gewalt. […] Es gibt nur eine einzige Kette, die uns alle angebunden hält: Die Liebe zum Leben. Zwar soll man sie nicht völlig abwerfen, doch zumindest so abschwächen, dass uns – wenn es die Lage erfordert – nichts zurückhält oder behindert, und wir bereit sind, das auf der Stelle zu tun, was ohnehin jeder irgendwann einmal tun muss.“ (Seneca 2017: 82 f.)

Suizidverbot in Christentum und Islam

Die Einstellung gegenüber dem Suizid wandelte sich radikal mit der Christianisierung – und später der Islamisierung. Friedrich Nietzsche (1882) behauptete:

„Das Christenthum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht: es liess nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung des Asketen waren erlaubt.“ (Nietzsche 2000: 146; § 131)

Zwar fehlt in der Bibel ein explizites Verbot des Suizids, doch wurde ein solches schon im frühen Christentum etabliert. Der Kirchenlehrer Augustinus erklärte ihn im 5. Jahrhundert zur Sünde, so z. B. auch Thomas von Aquin (13. Jh.). Zum Teil galt er sogar als sündhafter als der Mord an einem anderen Menschen; während der Mörder Buße tun und schließlich doch noch ins Himmelreich gelangen kann, kommt ein Suizidant sofort in die Hölle (Cioran 2018: 50).

Im Islam gibt es ein explizites Suizidverbot. Im Koran (Sure 4, Vers 29) heißt es: „[M]ordet euch nicht selbst“ (Koran 1959: 74). Dahinter steht die Vorstellung, dass Gott das Leben dem Menschen geschenkt habe und folglich auch nur er es – durch einen sogenannten natürlichen Tod – beenden dürfe. E. M. Cioran behauptet in diesem Zusammenhang, der Suizid sei für Religionen und Ideologien, die Absolutheit beanspruchen, nicht tragbar, weil der Suizidant selbst die Verantwortung für sein Heil ergreift – wodurch er sich von jedem anderen Heilsversprechen emanzipiert:

„Wenn die Religionen es uns verboten haben, Hand an uns zu legen, so deshalb, weil sie darin ein Beispiel von Ungehorsam erblickten, das Götter und Tempel herabwürdigte. […] [G]eht der Akt des Selbstmordes nicht etwa von einem radikalen Heilsbegriff aus? […] Keine Kirche und keine Obrigkeit hat bisher auch nur ein einziges tragbares Argument gegen den Selbstmord zustandegebracht.“ (Cioran 2018: 50)

Verdammung des Suizids im Abendland

In Übereinstimmung mit der Religion verdammte auch die abendländische Philosophie die Selbsttötung als unmoralisch. Beispielhaft sei hier Immanuel Kant genannt: er sieht sie in Konflikt mit dem moralischen Prinzip, die Menschheit stets als Zweck und nie als bloßes Mittel zu behandeln:

„[N]ach dem Begriffe der notwendigen Pflicht gegen sich selbst [wird] derjenige, der mit Selbstmorde umgeht, sich fragen, ob seine Handlung mit der Idee der Menschheit, als Zwecks an sich selbst, zusammen bestehen könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen, sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person, bloß als eines Mittels, zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens. Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen in meiner Person nichts disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu töten.“ (Kant 2008: 65)

In der westlichen Welt wurde der Suizid bzw. der Suizidversuch bis in 20. Jahrhundert teils rigoros kriminalisiert. Cioran spricht in diesem Zusammenhang von einer „tausendjährigen Verschwörung gegen den Selbstmord“ (Cioran 1973: 56): „Zwischen dem antiken Stoizismus und dem modernen ‚Freidenken‘, sagen wir: zwischen Seneca und Hume, erleidet der Selbstmord […] eine lange Verfinsterung, eine dunkle Epoche für alle jene, die sterben wollten, aber nicht wagten, das Verbot der Selbstentleibung zu verletzen.“ (Ebd.: 58)

Humes liberaler Widerspruch gegen das Suizidverbot

Cioran bezieht sich auf David Humes (1711 – 1776, s. Kulenkampff 1989: 9, 16) aus Sorge über die Reaktion erst posthum veröffentlichten Essay Über Suizid (Of Suicide). Hume widerspricht darin den verbreiteten Argumenten gegen den Suizid und kommt zu einem liberalen Standpunkt, wie er heute nicht mehr selten ist. Der Suizid ist für Hume nichts als eine von vielen Handlungen im Rahmen der gottgegebenen Naturgesetze, und bricht diese nicht; die Annahme eines bestimmten Bereiches, in dem Gott über das Leben entscheidet, hält er für absurd:

„Wäre die Verfügung über das menschliche Leben dem Allmächtigen als besonderer Wirkungsbereich vorbehalten, so daß es ein Eingriff in sein Recht wäre, wenn Menschen selbst über ihr Leben verfügten, so würde es in gleicher Weise verbrecherisch sein für die Erhaltung des Lebens tätig zu sein als für die Zerstörung. Wenn ich einen Stein, der auf meinen Kopf fallen will, abwende, durchkreuze ich den Lauf der Natur und überschreite die Grenzen des vorbehaltenen göttlichen Wirkungsbereichs, indem ich mein Leben über die Zeitspanne, welche ihm nach den allgemeinen Gesetzen der Materie und Bewegung zugemessen ist, hinaus verlängere.“ (Hume 1777)

Der Suizid ist laut Hume weder ein Verbrechen gegen Gott noch gegen die Gesellschaft:

„Ein Mensch, welcher sich aus dem Leben zurückzieht, fügt der Gesellschaft kein Leid zu; er hört bloß auf, ihr Gutes zu tun, was, wenn es ein Unrecht ist, ein Unrecht von der geringsten Art ist. – Alle unsere Verpflichtungen, der Gesellschaft Gutes zu tun, scheinen eine Art von Gegenseitigkeit einzuschließen. Ich empfange die Wohltaten der Gesellschaft und daher bin ich verpflichtet, ihre Interessen zu fördern; wenn ich mich aber aus der Gesellschaft überhaupt entferne, bin ich dann noch gebunden? Doch zugestanden, daß unsere Verpflichtung Gutes zu tun, beständig dauerte, so hat sie doch Grenzen: ich bin nicht verpflichtet, der Gesellschaft ein geringfügiges Gutes zu tun auf Kosten eines großen Schmerzes meinerseits: weshalb sollte ich also wegen eines nichtigen Nutzens, den die Gesellschaft vielleicht von mir erlangen möchte, ein elendes Dasein verlängern?“ (Ebd.)

Rehabilitation des Suizids

Mit dem Rückgang der kirchlichen Macht und der teilweisen Entkriminalisierung des Suizids im 19. und 20. Jahrhunderts wurde die Kritik am herkömmlichen Suizidverbot immer lauter. Der Moral- und Religionskritiker Friedrich Nietzsche (1844 – 1900, s. Nietzsche 1961: 5) empfiehlt etwa, „zur rechten Zeit“ zu sterben, also weder zu früh noch zu spät:

„Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. […] Wahrlich, nicht will ich den Seildrehern gleichen: sie ziehen ihren Faden in die Länge und gehen dabei selber immer rückwärts. […] Man muß aufhören, sich essen zu lassen, wenn man am besten schmeckt […] Manchem mißrät das Leben: ein Giftwurm frißt sich ihm ans Herz. So möge er zusehen, daß ihm das Sterben um so mehr gerate.“ (Ebd.: 56 f.)

Nietzsche wünscht sich gar eine Welle der Selbsttötung unter den „Überflüssigen“ (ebd.: 56): „Viel zu viele Leben und viel zu lange hängen sie an ihren Ästen. Möchte ein Sturm kommen, der all dies Faule und Wurmfreßne vom Baume schüttelt! Möchten Prediger kommen des schnellen Todes! Das wären mir die rechten Stürmer und Schüttler an Lebensbäumen! Aber ich höre nur den langsamen Tod predigen […]“ (ebd.: 57), ebenso E. M. Cioran (1911 – 1995, s. Cioran 2019: 2): „Vielleicht wird die Zeit kommen, da der natürliche Tod durchaus verachtet wird und die Katechismen durch eine neue Formel angereichert werden: ‚Gib uns, Herr, die Gunst und die Kraft, ein Ende zu machen, die Gnade, uns zur rechten Zeit zurückzuziehen.‘“ (Cioran 1973: 56)

Am weitesten ging mit der Verherrlichung des Suizids wohl Philipp Mainländer (1841 – 1876, s. Mainländer 1989: 10, 16), der sich selbst als Vollender des philosophischen Pessimismus, den Schopenhauer im 19. Jahrhundert begründet hatte, sah (ebd.: 16 f.). Er erhob den Suizid zum Weltprinzip – die Weltentstehung ist bei ihm die Selbstvernichtung eines unpersönlichen Gottes – und hielt die Erkenntnis, dass „Nichtsein allem Sein vorzuziehen“ (ebd.: 98) sei, für die Grundlage der Moral. Mainländer selbst erhängte sich nach dem Erscheinen des zweiten Bandes seines Hauptwerks, der „Philosophie der Erlösung“. Aus seinem Pessimismus leitet er zwar keine Verpflichtung zur Selbsttötung ab, doch er empfiehlt sie jedem Todessehnsüchtigen:

„Wer die Bürde des Lebens aber nicht mehr zu tragen vermag, der werfe sie ab. Wer es nicht mehr aushalten kann im Karnevalssaale der Welt […], der trete, aus der ‚immer geöffneten‘ Tür, hinaus in die stille Nacht.“ (Ebd.: 142) Und weiter: „[D]as herzlose Urteil der meisten Menschen, namentlich der Pfaffen, über den Selbstmörder [ist] das einzige […], was mich noch tief empören kann. Ich möchte ferner alle windigen Motive zerstören, welche den Menschen abhalten können, die stille Nacht des Todes zu suchen […]“ (ebd.: 143).

Heutige Situation und Problematik

In der Moderne kehrt die Philosophie so scheinbar zu der Auffassung „der Alten“ (d. h. der antiken Denker) zurück; der Suizid wird als Mittel des selbstbestimmten Menschen betrachtet, einem ihm unliebsamen Dasein ein Ende zu machen. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist in der westlichen Welt und weit darüber hinaus mittlerweile anerkannt, in Deutschland wird das Recht auf Selbsttötung durch die im Grundgesetz festgelegte Unantastbarkeit der Menschenwürde (GG Art. 1) und das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung (GG Art. 2) geschützt.

Unter Umständen können Deutschland Suizidäre dennoch „vor sich selbst geschützt“ werden: „Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil 1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt […]“ (BGB § 1906 Abs. 1). Seit 1954 galt der Suizid in Deutschland zudem als sog. Unglücksfall; man machte sich strafbar, wenn man als Zeuge eines Suizidversuchs nicht einschritt (Raum 2022). Das hat sich mit einem historischen Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020 geändert, nun ist es sogar denkbar, dass das Verhindern eines Suizids als Eingriff in das Persönlichkeitsrecht verfolgt wird (ebd.). 2022 positionierte sich auch der Deutsche Ethikrat: „Wenn ein Mensch die Entscheidung zum Suizid aus freien Stücken treffe, müsse dies ‚als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts‘ akzeptiert werden, sagte die Ethikrats-Vorsitzende Alena Buyx.“ (Spiegel 2022).

 Beklagt wird auch heute noch die Bevormundung von Suizidären durch psychiatrische Institutionen und die Öffentlichkeit. Ein prominenter Verteidiger des selbstbestimmten Todes war der US-amerikanische Psychiater Thomas S. Szasz (gest. 2012). Er vergleicht Selbsttötung mit Selbstbefriedigung, oralem Geschlechtsverkehr und Homosexualität, die ebenfalls lange als medizinische Probleme betrachtet wurden. In gleicher Weise werde heute noch der Suizid als ein medizinisches Problem betrachtet, als Ergebnis von Geistesverwirrung. „Die Person, die sich selbst tötet, sieht Suizid als eine Lösung. Wenn der Beobachter es als Problem betrachtet, schließt er ein Verständnis des Suizids […] sicher aus […]“ (eigene Übertragung; Szazs 1999). Statt mit einem strikten Verbot des Suizids habe man es heute mit Entmündigung durch das zweifelhafte Konzept der Geisteskrankheit (mental illness) zu tun: „[D]er recht denkende Mensch heute […] glaubt, dass niemand, der bei Verstand ist, sich tötet, dass Suizid ein Problem der geistigen Gesundheit ist.“ (Ebd.) Die Entkriminalisierung gehe noch nicht weit genug: „Wir sind stolz, dass Suizid kein Verbrechen mehr ist, doch er ist offensichtlich nicht rechtmäßig; wäre er das, wäre es illegal, Suizid gewaltsam zu verhindern und es wäre legal, einer Person zu helfen, sich zu töten.“ (Ebd.) Der Staat und die Medizin setzen laut Szazs so die Unterdrückung der Kirche fort: „Für lange Zeit war der Suizid die Sache der Kirche und des Priesters. Jetzt ist es die Sache des Staates und des Arztes. Schließlich werden wir es vielleicht zu unser eigenen Sache machen, unabhängig von dem, was die Bibel oder die Verfassung oder die Medizin uns angeblich darüber sagt.“ (Ebd.)

Ein früherer Vertreter ähnlicher Auffassungen war der österreichische Schriftsteller und NS-Widerstandskämpfer Jean Améry, der mit dem Essay Hand an sich legen (1976) eine der wichtigsten philosophischen Arbeiten zum „Freitod“ vorlegte. Auch er wies den Anspruch der Psychiatrie, jeden Suizidären zu heilen, zurück: „Wer abspringt, ist nicht notwendigerweise dem Wahnsinn verfallen […]. Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muß wie von den Masern.“ (Améry 1983: 40) Für Améry ist das Recht auf Selbsttötung fundamental, und außerhalb der gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit: „[Der Freitod ist] eine hochindividuelle Sache, die zwar niemals ohne gesellschaftliche Bezüge vollzogen wird, mit der aber letztlich der Mensch mit sich allein ist, vor der die Sozietät zu schweigen hat.“ (Ebd.: 103) Die Psychologie (Suizidologie) vermöge nicht die Innenperspektive des Suizidären zu erfassen; als Wissenschaft in der Gemeinschaft der Lebenden unterliege sie stets der „Logik des Lebens“, dem Imperativ zu leben; der Suizidär folgt schließlich hingegen der Logik des Todes (ebd.: Kap. I).

Auch Améry sieht in der Stigmatisierung der Suizidalität eine Fortsetzung des christlichen Suizidverbots: „Die uralte Vorstellung der Sünde geistert noch immer durch die Forschung.“ (Ebd.: 104) Und auch er zieht den Vergleich mit der Homosexualität: „Schon sind wir ja glücklicherweise so weit, daß in allen fortgeschrittenen Gesellschaften die erotischen [resp. sexuellen] Minderheiten weder als kriminell gelten noch als krank. […] Durchaus ist nicht einzusehen, warum der Suizidär der letzte große Außenseiter bleiben soll.“ (Ebd.: 61) Auch die Depression (oder Melancholie) schließt er hier ein: „Der Depressive oder der Melancholiker […] ist so wenig krank wie der Homoerotiker. Er ist nur anders.“ (Ebd.: 65) Amérys scheinbar widersprüchliches Postulat: „Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.“ (Ebd.: 52)

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