Welt und Kunst

Home Texte Impressum

Jesko Veenema

 

Welt und Kunst: Versuch über ein gestörtes Verhältnis

 

Essay zum Zitat

„Die Welt der Kunst & Fantasie ist die wahre, the rest is a nightmare.“

(Arno Schmidt)

 

Oktober 2023

 

 

I

“As a method, realism is a complete failure.”

Oscar Wilde, The Decay of Lying

Es gibt in unseren Breiten seit einigen Jahrhunderten einen rapiden Verfall der gebundenen Sprache, der in diesem Jahrhundert vielleicht seinen absoluten Tiefpunkt erreicht hat. Das Drama, das einst in Bühnenverse gekleidet wurde, ist heute eigentlich nur noch als Prosa denkbar. Das Versepos ist tot. Und die Lyrik selbst, eben jene Gattung, die eigentlich per definitionem gebundene Sprache verwendet, hat zu großen Teilen Reim, Metrum und Rhythmus aufgegeben, sodass ihre Produkte nur noch in Zeilen geschriebene Prosa sind. Gebundene Sprache ist out.

Gebundene Sprache ist Sprache, die den Regeln des Verses unterworfen ist: Regeln des Reimes, des Metrums, des Rhythmus, der Kadenz, der Assonanz usw. Darin unterscheidet sie sich von der „natürlichen“ Sprache, wie sich Musik von natürlichen Geräuschen unterscheidet. Sie hat ihre eigenen Regeln, die sogar die gewöhnlichen Regeln der Sprache untergraben können. Sie ist eine Welt für sich, in der es uninteressant ist, wie die Menschen wirklich sprechen.

In unserem Zeitalter ist es zur Gewohnheit geworden, über das Leben zu schreiben, wie es wirklich ist. Bedeutende Schriftsteller sind im Wesentlichen Biografen geworden, die ihr eigenes Leben in ihren Werken verwerten; Soziologen, die die Gesellschaft ungeschönt zeigen; oder Chronisten, die versuchen, ihre Zeit zu konservieren. So beeindruckend das auch sein mag, ist es doch ein mangelhafter Ersatz für die eigentliche Aufgabe der Kunst, die in der Schöpfung einer eigenen, menschengemachten und von eigenen Gesetzen bestimmten Welt besteht.

Die gebundene Sprache ist ein Beispiel dafür. Ihre Konventionen konnten gegen die realistische Tendenz, die Sprache authentisch wiederzugeben, nicht standhalten. Das ist tragisch, denn in jeder Hinsicht ist das Leben, ist die Natur im Vergleich zu der Kunstwelt, die der Mensch hervorbringt, – hässlich. Oder besser gesagt: unästhetisch. Sie ist in der Tat ein wirrer Albtraum, ein herbes Durcheinander von Eindrücken ohne rechte Gestaltung.

Der Eindruck, es handle sich auch bei der Natur um ein ästhetisches Phänomen, lässt sich vielleicht besser mit Oscar Wilde (The Decay of Lying) erklären: Die Kunst ändert unseren Blick auf die Dinge und die Natur wird ästhetisch, weil wir die Kunst darin wiedererkennen, nicht umgekehrt. Und selbst wenn die Natur schon selbst ästhetisch wäre – so wäre der realistische Künstler nur ein billiger Plagiator, der bloß wiederholt, was der Schöpfer besser und umfangreicher im Original dargestellt hat. Vielmehr ist die Kunst eine Neuschöpfung der Welt, oder eines ihrer Teile, und jeder wahre Künstler ein kleiner Demiurg.

 

II

„Ge­hor­sam ge­gen das selbst­ge­ge­be­ne Ge­setz ist Frei­heit.“

Jean-Jacques Rousseau, Contrat social, T. I, Kap. 8

Was steht am Anfang der Kunst? Ich würde sagen: Muße. Kunst ist etwas, das um seiner selbst willen geschieht, und obwohl etwa ein kommerzielles oder moralisches Interesse sie beeinflussen kann, kann es nicht ihr Grund sein. Die Kunst ist ihrem Wesen nach etwas Spielerisches (und das, um die Parallele aufzuzeigen, mag wohl auch von der Natur gelten). Der Künstler spielt mit dem, was er findet und macht daraus etwas Neues.

Jedes Spiel braucht Regeln, und auch die Kunst braucht sie. Der Künstler setzt sich (oft unbewusst) eigene Grenzen: ein Versmaß; eine Harmonielehre; einen Stil; einen Farbauftrag; eine Bauweise usw. usf. Damit schafft er sich (und anderen) eine Sphäre innerhalb der Welt, in der eigene Regeln gelten, und vollzieht damit das Grundprinzip der Kultur: die Errichtung einer menschlichen Sphäre in einer nicht-menschlichen Umwelt, sei es ein Haus, ein Acker oder eine Melodie.

Hier erfährt der Künstler sich ganz befreit von den Zwängen der äußeren Welt und wird selbst zum Schöpfer. Wahre Kunst ist die innovative Variation innerhalb künstlicher Konventionen, was auch eine Erneuerung der Konventionen beinhalten kann. Gefährlich ist es nur, zu heftig an den Grundsätzen auch der ererbten künstlichen Gesetze zu rütteln; wie, glaube ich, die klassische Moderne getan hat. Sie ist ein Feuerwerk der Kreativität, das die Regeln der Kunst in allen Bereichen so sehr untergraben hat, dass die nachfolgenden Generationen relativ ratlos dastehen, ein – wie man zugeben muss, großartiger – Exzess, der nichts mehr zu sagen übrig lässt.

Welche Welt nun „die wahre“ ist, sei zunächst dahingestellt – wichtig nur festzuhalten, dass die rohe, unästhetische Welt die erste, die primäre ist, in der sich die Welt der Kunst & Fantasie erst entwickelt. Das Unbewusste, das Nicht-Intellektuelle (denn Kunst ist ein Modus der Intellektualität und Sublimation) ist, darin wollen wir Schopenhauer folgen, der Ursprung.

 

III

„[N]ur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“

Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 5

Die rohe Natur ist nicht schön, sie ist der Inbegriff des Unästhetischen. Der unbehauene Stein ist ihr Sinnbild, pars pro toto. Sie steht für alles, was wir als niedrig, als hässlich, als leidvoll, als unbequem, als banal, als stumpf bezeichnen. Sie ist tatsächlich ein Albtraum, verglichen mit der schönen, sauberen und ordentlichen Sphäre der Kunst. „[D]er Wille ist das an sich Unästhetische“ (ebd.), schreibt Nietzsche und hat recht. Die Notwendigkeit der Bedürfnisse, die Last der Arbeit, die alltäglichen Pflichten, die weltlichen Profanitäten – sie sind der große Gegensatz zur allem höheren Gefühl und zu allem künstlerischen Streben. Kunst kommt von Können, und Muße nicht von Müssen. Sie entsteht also nur, insofern wir von den Zwängen der Außenwelt befreit sind.

Erweitert man den Blick auf die Menschheitsgeschichte um die lange, lange Zeit vor der landwirtschaftlichen Revolution, so zeigt sich, dass unsere Art die meiste Zeit recht wenig Arbeit und recht viel Freizeit hatte (fantastisch erklärt von James Suzman in seinem Buch Work: A History of How We Spend Our Time). Und tatsächlich verbrachten die Menschen damals wohl viel Zeit mit Spiel und Kunst, wovon uns noch heute Zeugnisse, etwa Höhlenmalereien, vorliegen. Erst mit der landwirtschaftlichen Revolution entsteht die (etwa nach Gehlen wesentlich menschliche) Tendenz, der Natur mit der Kultur eine „Gegenwelt“ entgegenzustellen. Das geschieht auch durch die Mittel der Kunst.

Mehrere historische Revolutionen und Prozesse haben die Präsenz der Kunst im Leben der Menschen verstärkt, darunter die Erfindung des Buchdrucks, des Fernsehens und des Museums. Arno Schmidts Zitat ist einerseits ein persönliches Bekenntnis, andererseits ein Symptom für den kulturellen Fortschritt, der es erlaubt, die Kunst in den Mittelpunkt zu stellen. Dem erwachenden Bewusstsein, dem menschlichen Geist erwächst ein Abscheu vor der äußeren Welt, der nicht-künstlerischen Welt. Mehr und mehr ist es ihm möglich, sich in seiner geistigen Welt der Kunst, in der er sich zu Hause fühlt, zu verlieren. Das Leben in der albtraumhaften, verworrenen Realität ist ihm nur noch möglich, indem er sie ästhetisiert. Das Leben lohnt sich nur noch als ästhetisches Erlebnis.

„I treated Art as the supreme reality, and life as a mere mode of fiction“, schreibt Oscar Wilde in seinem literarischen Brief De Profundis. Hier zeigt sich die völlige Umkehrung des Rollenverhältnisses. Das ursprüngliche „wahre Leben“ ist zur Fiktion, zu etwas Fernem, Unklarem, Unwirklichem, geworden, die Kunst hat die primäre Stellung eingenommen. (Ein analoges Phänomen sehen wir in unserer Zeit übrigens bei der virtuellen Realität, insbes. beim Gaming. Gaming-Begriffe werden in der Jugendsprache auf das „real life“, das echte Leben, übertragen (z. B. NPC, Endgegner, OP, cheat). Das Game wird zum wahren Leben, das Leben zu einem Spiel.) Arno Schmidts Zitat ist zunächst ein subjektives Urteil eines Menschen, der sich so sehr der Kunst verschrieben hat, dass diese ihm zur Realität geworden ist. Die Welt der Kunst ist also nicht einfach die wahre – für manche Menschen wird sie das jedoch.

 

IV

„Der Mensch wird – das will Hegel uns glauben machen – erst dann ganz frei sein, wenn er sich mit einer völlig von ihm selber geschaffenen Welt umgibt.

Genau das hat er getan, und nie war er so angekettet, so versklavt wie jetzt.“

E. M. Cioran, Vom Nachteil geboren zu sein, VIII

Eine Bekannte erzählte mir vor Kurzem von einem jungen Mann, kaum älter als ich, den sie gekannt hatte. Dieser junge Mann war künstlerisch außerordentlich begabt, er sang, schrieb Gedichte und einen Roman, den er auch beendete. Das Manuskript besitzt meine Bekannte, sie erzählte mir, es sei ein recht persönliches Buch, in dem ein Alter Ego des Autors den Tod seines Geliebten plant, zuletzt jedoch sich selbst das Leben nimmt. Der junge Mann lebte die Handlung seines Romans, deren Einzelheiten ich auslasse, fast genau nach und hat sich leider auch das Leben genommen. „Man kann sich in der Kunst auch verlieren“, sagte meine Bekannte dazu. Die Geschichte erinnerte mich an jene Verliebten, die sich nach dem Erscheinen der Leiden des jungen Werthers in den 1770er Jahren das Leben nahmen. Hatten auch sie sich in der Kunst verloren?

Diese sind Fälle von Menschen, die sich von der sogenannten Wirklichkeit losgesagt und sich einem künstlerischen Leben verschrieben haben, das in seiner inneren Notwendigkeit den Suizid verlangte. Darin liegt noch keine eigentliche Verblendung. Doch kann die Kunst auch eine verführerische Rolle einnehmen, bei der sie den Blick des Menschen in die Welt auf eine Weise versiegelt, die fatal sein kann. Mag unser Blick auf die Natur und das Leben noch so sehr von der Kunst beeinflusst sein, die Kunst vermag doch nicht alles. Wir können nicht die Welt nach unserem Belieben ästhetisieren, ohne ein im besten Fall aufrüttelndes, im schlimmsten Fall schreckliches Feedback von der Realität zu bekommen. Die Wirkungsweise vieler Ideologien hängt wesentlich mit ihrer Ästhetik zusammen.

Ebenso kann die Kunst in ihren niedrigen Formen – sofern man dann noch von Kunst überhaupt zu sprechen bereit ist – den Menschen aufreizen, verführen, abhängig machen; Kunst kann (und das sogar in höheren Formen) Machtverhältnisse verschleiern, ein gefährliches Weltbild propagieren usw.

Die Gefahr der Kunst ist die Gefahr der Kultur überhaupt: Es ist die Gefahr, sich in eine selbstgeschaffene Welt so sehr zu verstricken, dass man die äußere, die nicht-menschliche, außergeistige, die gegebene Welt nicht mehr klar sieht, und dass man ihr nicht mehr entkommt. Doch gerade darum ist doch das Zeichen aller großen Kunst das, dass sie uns etwas zeigt, dass uns eine große Wahrheit über jene äußere Welt erkennen lässt; große Kunst ist auch ein Mittel der Erkenntnis wie Wissenschaft und Philosophie.

Darum ist niedrige Kunst, die nur der oberflächlichen Unterhaltung dient, keine Kunst in einem engeren, selektiveren Sinne. Sie ist ein Mittel der Ablenkung, vielleicht des Eskapismus. Große Kunst wird aber gerade nicht den Rezipienten dazu einladen, sich in eine realitätsferne Fantasiewelt zu begeben, sondern sie wird versuchen, ihm die fundamentalsten Wahrheiten seiner Wirklichkeit in reinerer Gestalt zu zeigen, als die Wirklichkeit es selbst tut.

 

V

„Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.“

Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Zweiter Teil, Kap. 5

Ich plädiere für einen Mittelweg, und muss mich dazu von zwei Parteien distanzieren. Auf der einen Seite stehen die trockenen Pragmatiker, die Befürworter des „wahren Lebens“, die in der Kunst eine gefährliche Form von Eskapismus sehen und die Rückkehr zur Natur fordern. Auf der anderen Seite stehen die elitären Ästhetizisten, die das Eigenleben der Kunst überhöhen und sie als eine vollkommene Lebensart vorstellen. Mit dem letzteren Lager sympathisiere ich etwas mehr, indem ich ihnen zumindest halb Recht gebe: Denn, dass Kunst ein Lebensprinzip, und vielleicht sogar das Höchste, sein kann, glaube auch ich. Doch an ein vollkommenes Eigenleben der Kunst kann ich nach Obigem nicht glauben. Die Welt der Kunst ist und bleibt eine Enklave, eine Welt, die innerhalb einer größeren Welt geschaffen wird. (Strenggenommen müsste man natürlich immer in der Mehrzahl von mehreren Kunst-Welten sprechen.) Doch sie ist die bessere, die vollkommenere, die großartigere Welt – so zumindest will mir scheinen. Das Leben, die Natur außerhalb der Kunst ist ein schreckliches Durcheinander. Das Hässliche folgt da aufs Schöne, das Gute aufs Schlechte, das Grobe aufs Feine, das Sanfte aufs Heftige, das Alltägliche aufs Sonderbare, die verschiedensten Formen, Farben, Stimmungen, ohne Sinn und Ordnung, in schreienden Kontrasten. Wenn man dies bedenkt, will man mit Macbeth sagen: „It is a tale, / Told by an idiot, full of sound and fury, / Signifying nothing.“ (A. 5, Sc. 5, l. 26 ff.)

In diesem Sinne erscheint uns die Wirklichkeit im Vergleich mit den klaren Formen der Kunst als unwirklich, verworren, traumähnlich. Hamlet sagt, Aufgabe der Kunst sei „to hold, as 'twere, the / mirror up to nature“ (A. 3, Sc. 2, l. 23 f.), doch er irrt! Dazu müssen wir nicht einmal Rortys Philosophy and the Mirror of Nature heranziehen oder Douglas Adams’ Abfertigung „there simply isn’t a mirror big enough“ (The Restaurant at the End of the Universe, ch. 19). Wir können einfach feststellen: Wäre die Kunst nur der Spiegel des Lebens, wäre sie überflüssig. Denn sie wäre eine bloße Kopie, bloße Imitation. Die Kunst ist kein Spiegel, sondern eine Brille; ein Vermittlungssystem, das uns von der Welt nicht trennen, sondern mit ihr verbinden soll. Die Schöpfer geschlossener, künstlerischer Welten reiner Fantasie haben darin versagt. Die Welt der Kunst und Fantasie aber ist eine Zwischenwelt, ein verbindendes Glied zwischen innerem Geist und äußerer Welt. Die Kunst ist nicht so verschieden von der Philosophie, nicht einmal von der Wissenschaft; es sind verschiedene Zugänge zur Welt, die alle beanspruchen dürfen, ihre eigenen Erkenntnisweisen zu haben.

Die Kunst muss aus dem Chaos, das diese Welt, diese Natur, dieses Leben ist, das Wesentliche herausziehen und in ihrer eigenen Sprache zeigen. Ihre Mittel (wie die der Philosophie) sind Abstraktion und Übertreibung. Dadurch werden erst Wahrheiten darstellbar, die in der Realität mit zu vielen Einzelheiten, in verwirrenden Gestalten, im Strudel der Ereignisse vorliegen. „One should absorb the colour of life, but one should never remember the details. Details are always vulgar“ (Wilde, The Picture of Dorian Gray, ch. 8) – das ist das Motto des Künstlers. Indem die großen Wahrheiten der Welt erst durch die künstlerische Vermittlung entstehen, ist diese Zwischenwelt zugleich eine unwahre und die wahre Welt. Eine unwahre, weil ihre Wahrheiten nicht ohne die dahinterliegende, künstlerisch unvermittelte Realität wären; die wahre, weil es in der Welt an sich gar keine Wahrheiten gibt – Wahrheiten entstehen im Umgang mit der Welt, liegen also in der Vermittlung. In der Kunst, jener Welt, die der Mensch schuf, um mit der Welt da draußen fertig zu werden, werden die Wahrheiten klarer ausgesprochen, als die Natur es vermochte.

Schopenhauer hat daraus geschlossen, der Künstler hätte Zugang zur „Idee“ einer Sache, welche er dann in Formen umsetzt. Ideen gibt es aber nicht tatsächlich, sie sind eine Erfindung Platons. Es gibt sie bloß im Geist des Künstlers, der sie in der Beobachtung, im Umgang mit der Welt bildet.